Die Geister der Moldau — Kapitel 1 Ankunft

Anfangs sah ich frei­lich nur wenig von dem Glanz der Stadt, die man so über­schwäng­lich „Die Gol­de­ne“ nennt. Graue Stra­ßen sah ich, wenn ich es auch unter dem Auf und Ab ihres Pflas­ters immer wie­der fühl­te wie das Atmen eines leben­den Wesens. Die engen Gän­ge des Stu­den­ten­werks sah ich, wo Hun­der­te von Stu­den­ten und Stu­den­tin­nen vie­le Stun­den mit War­ten ver­brach­ten, bis hin­ter vie­len Türen alles Not­wen­di­ge beschei­nigt war.

Ich ging zur „Vege­tar­na“, die mir Ellen Brand emp­foh­len hat­te, drei alt­vä­ter­lich möblier­te Zim­mer in einem bür­ger­li­chen Hau­se. Dort ser­vier­te man uns jeden Mit­tag und auch zu Abend gegen Mar­ken und Geld ein vege­ta­ri­sches Essen, ange­mes­sen unse­rem Geld­beu­tel, unse­rem gerin­gen Vor­rat an Fleisch­mar­ken und unse­rem Appetit.

Jeden Tag schiff­te ich vor­über an einer klei­nen Insel der Ver­su­chung: eine win­zi­ge Kon­di­to­rei bot Erd­beer­tört­chen feil, wie ich sie nie vor­her so köst­lich geges­sen hat­te. Nur sel­ten konn­te ich der Ver­su­chung wider­ste­hen, sie­ben gan­ze Kro­nen zu opfern für solch eine süße mür­be Nich­tig­keit, die in drei Minu­ten — aus der Hand, ver­steht sich — ver­speist war.

An Bekannt­schaf­ten fehl­te es mir nicht. Ellen Brand, irgend­wie her­ab­las­send und zudring­lich zugleich, hat­te mich ein­ge­führt bei den Bewoh­ne­rin­nen unse­res Stock­werks. Am bes­ten gefiel mir Anne­li, Stu­den­tin der Kunst­ge­schich­te. Man sah sie meist eilig, mit gro­ßen Reh­au­gen, in ihrer rot­brau­nen Wild­le­der­ja­cke, das lan­ge Haar aus der Stirn zurück­wer­fend, wenn sie grüß­te. Mit Ellen Brand im Zim­mer wohn­te Ilse, ein unschein­ba­res Mäd­chen mit Bril­le, im Zim­mer neben uns zwei Medi­zi­ne­rin­nen, schon älte­re Semes­ter, die lus­tig und geräusch­voll in den Tag hin­ein lebten.

So war ich auf Mari­as Gesell­schaft nicht ange­wie­sen, wenn es auch immer unbe­hag­lich geblie­ben wäre, am Mor­gen als Ers­tes und zur Nacht als letz­tes ein mür­ri­sches Gesicht zu sehen.

Aber Maria begeg­ne­te mir durch­aus nicht mür­risch. Zwar schien sie völ­lig ver­ges­sen zu haben, wie ver­traut wie am ers­ten Mor­gen waren. Aber es blieb genug All­täg­li­ches, ange­fan­gen bei den Brot- und Mar­ga­ri­ne­ra­tio­nen, die wir gemein­sam kauf­ten und auf­teil­ten, um uns nicht mit har­ten Brot­res­ten und ver­dor­be­nem Auf­strich pla­gen zu müssen.

Ich führ­te sie auch in die Vege­tar­na ein, und wenn es sich zeit­lich so traf, saßen wir dort bei­ein­an­der an einem der klei­nen Eck­tisch­chen. Alt­mo­di­sche Spit­zen­vor­hän­ge ver­hüll­ten die bei­den hohen Fens­ter. Zwi­schen ihnen thron­te eine Stech­pal­me auf manns­ho­her Kon­so­le. Ein Buf­fet begrenz­te auf der andern Sei­te unse­re Abge­schie­den­heit und dien­te als Auf­be­wah­rungs­ort für alles Unver­derb­li­che, was in einer Spei­se­wirt­schaft für die Tische nötig ist, Salz, Zucker, Ser­vi­et­ten, Glä­ser und der­glei­chen. Ja. ich mei­ne, es kam durch­aus vor, dass wir uns bei­de dort auf unver­bind­li­che Wei­se bei­ein­an­der zu Hau­se fühl­ten, so wie Geschwis­ter von sehr ver­schie­de­ner Art und mit ver­schie­de­nen Ansich­ten. Obwohl ich auch mit ande­ren gele­gent­lich in der Vege­tar­na aß, Gän­ge erle­dig­te oder einen Schwatz hielt im Wasch­raum oder in der Koch­ni­sche auf dem Flur, blie­ben wir bei­de doch näher bei­ein­an­der, als ich es am Anfang für mög­lich gehal­ten hätte.

Trotz ihrer trau­ri­gen Geschich­te hat­te ich wenig Mit­leid mit ihr. Unglück­li­che Lie­be kann immer leicht auf das Mit­ge­fühl ande­rer rech­nen, aber sie lieb­te ja nicht. Es war schließ­lich ihre Schuld, dass die­se Ver­bin­dung so unglück­lich aus­ge­hen muss­te. So kam ich bald dazu, in ihr eine eit­le klei­ne Per­son zu sehen, die sich mit Jugend und Schön­heit den Baronsti­tel eines ält­li­chen, fet­ten und unan­sehn­li­chen Herrn hat­te kau­fen wol­len in der leicht­sin­ni­gen Hoff­nung, die Lie­be wür­de sich dann zur rech­ten Zeit schon ein­stel­len. Bald muss­te ich aller­dings ein­se­hen, dass ich mich irrte.

Eines Mor­gens, als Maria schon aus dem Hau­se gegan­gen war, fand ich auf dem Fuß­bo­den eine Post­kar­te mit dem Bild eines Man­nes. Sie moch­te sie viel­leicht mit der Hand­ta­sche aus dem Schrank­fach gezo­gen haben, ohne es zu bemer­ken. Ich hob die Kar­te auf. Es war das Bild eines jun­gen Offi­ziers — viel­leicht ein Major. Dem Bil­de nach konn­te er kaum viel älter sein als drei­ßig Jah­re, und da ich Maria eini­ge Jah­re älter schätz­te als mich, konn­te der Alters­un­ter­schied zwi­schen ihnen nicht groß sein.

Sein Gesicht über­rasch­te mich. Nicht ein ein­zi­ger bana­ler oder gewöhn­li­cher Zug war dar­in. Es war das Bild eines Men­schen von vor­neh­mer Her­kunft. Auch in mei­ner gut­bür­ger­li­chen Schu­le hat­te es Adli­ge gege­ben, Grä­fin­nen und Baro­nes­sen. Es waren Schul­mä­del wie wir auch. Eine von ihnen war über­mä­ßig kurz­sich­tig; ich erin­ne­re mich noch deut­lich ihrer stark gewölb­ten Bril­len­glä­ser, die ich immer mit einem gewis­sen Wider­wil­len ansah, die­ses so deut­li­che Zei­chen einer kör­per­li­chen Unzulänglichkeit.

Das Gesicht hier war anders. Deka­denz moch­te dar­in sein, Müdig­keit und Über­rei­fe, ohne dass ich das sah – davon ver­stand ich damals noch zu wenig. Ich sah nur, dass es ein wirk­lich schö­nes Gesicht war, ohne ganz und gar regel­mä­ßig zu sein, ein lie­bens­wer­tes, wenn auch nicht unbe­dingt lie­bens­wür­di­ges Gesicht mit sei­nem Ernst, auf jeden Fall ein Gesicht, das eine unwi­der­steh­li­che Anzie­hungs­kraft aus­üb­te. Ja, ich geste­he, dass ich mich sei­nem Bann nicht ent­zie­hen konnte.

Als es dann end­lich wie­der auf ihren Nacht­tisch lag, wohin es gehör­te, fiel mir ein, dass es viel­leicht gar nicht das Gesicht ihres Man­nes sei. Noch ein­mal ging ich zum Nacht­tisch hin und nahm es auf. Ich dreh­te es um. Da es offen im Zim­mer gele­gen hat­te, hät­te es ja eben­so gut sein kön­nen, dass ich durch Zufall die Rück­sei­te zuerst gese­hen hät­te. Also fühl­te ich mich dazu befugt. Es trug, wie ich ver­mu­tet hat­te, eine Wid­mung. In einer schrä­gen, flüs­si­gen Hand­schrift stand da: „Maria, mei­ner gelieb­ten Frau, für die Zei­ten der Tren­nung, Götz.” Ich konn­te mir vor­stel­len, dass die­se gespreiz­ten Wor­te sich nicht ver­tru­gen mit Mari­as nüch­ter­ner Art. Ich mal­te mir aus, wie sie sich über dem Bild eine Ziga­ret­te anzün­de­te — was sie oft tat und von Tag zu Tag öfter — und wie sie mit spöt­tisch ver­zo­ge­nem Mun­de den Rauch aus­blies, über den Pathos der Wid­mung hin­weg. Aber jeden­falls war sie sei­ne Frau, und er war der Mann, den sie nicht lie­ben konn­te, obwohl sie es ver­sucht hat­te, immer wie­der und immer wieder.

Die­se Ent­de­ckung beschäf­tig­te mich sehr. In der Jugend neigt man dazu, die Din­ge weiß und schwarz zu sehen. Schön­heit wird geliebt, Häss­lich­keit ver­ab­scheut. Das war es, was auch mich manch­mal ban­ge sein ließ: wür­de ich Lie­be finden?

Ich leg­te das Bild wie­der auf den Nacht­tisch, aber es schien mir, als wei­se ich ihm damit all­zu eigen­mäch­tig einen Platz an, auf den es nur für mei­ne eige­nen Begrif­fe gehör­te. Hat­te ich jemals gedacht, ich könn­te doch Maria zum Guten und zur Ver­söh­nung zure­den, dann sah ich jetzt ein, dass ein sol­ches Unter­neh­men fehl­schla­gen muss­te. Ist einer häss­lich, dick und ält­lich, dann kann er doch in ande­rer Hin­sicht Vor­zü­ge und lie­bens­wer­te Eigen­schaf­ten haben, die eine Frau mit Alter und Häss­lich­keit ver­söh­nen könn­ten. Aber wie soll­te ich sie zu einem so schö­nen, allem Anschei­ne nach so vor­neh­men Men­schen über­re­den? Wer an einem so adli­gen Gesicht Anstoß nahm, der konn­te wohl auch nicht zu adli­gen Zügen des Her­zens und der See­le über­re­det werden.

Aber klar war mir, dass ich es mir nicht anma­ßen konn­te, das Bild auf ihre Nacht­tisch zu legen, ganz so als woll­te ich ihr bedeu­ten, was recht und anstän­dig ist und was „sich gehört”. Zwar hat­te ich mei­ne ent­schie­de­ne Mei­nung dar­über, aber dabei war ich doch fest ent­schlos­sen, mich nicht wie­der ein­zu­mi­schen. Ich über­leg­te lan­ge, wohin ich das Bild legen soll­te, erwog sogar, es in den Schrank zurück­zu­le­gen, Aber es wider­streb­te mir, die geschlos­se­ne Tür zu öff­nen, und da ich doch den genau­en Ort nicht wuss­te, wo es gele­gen hat­te, leg­te ich es end­lich auf den gro­ßen, lee­ren Tisch und mach­te mich etwas erschöpft eben­falls zum Weg­ge­hen fertig.

 

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