Die Geister der Moldau — Kapitel 3 Die Marionette

Im ers­ten Büfett fan­den wir nichts, das uns gefiel. Man konn­te dann ohne irgend­wel­che Pein­lich­keit wie­der gehen und den Bon leer, wie man ihm am Ein­gang bekom­men hat­te, am Aus­gang wie­der abge­ben. Im zwei­ten Büfett fan­den wir, was wir such­ten. Auch eine Sup­pe geneh­mig­ten wir uns und spä­ter einen Nachtisch.

Auf sol­che Wei­se ange­nehm gesät­tigt, bum­mel­ten wir über den Markt, der hier fast die gan­ze Brei­te des Plat­zes ein­nahm: bun­ter länd­li­cher Fle­cken am Ran­de der Groß­stadt­stra­ße, wo die Bäue­rin­nen mit schwar­zem Kopf­tuch und steif gefäl­tel­tem schwar­zen Rock ihre Ware feil­hiel­ten. Drau­ßen im Reich hat­ten die Schau­fens­ter sich längst geleert und die Märk­te waren zusam­men­ge­schrumpft. Auch hier gab es die Stän­de mit Mast­gän­sen nicht mehr, von denen man­che noch sehn­süch­tig erzähl­ten. Die gold­gel­be But­ter im Fass sah man nur sel­ten, die Vor­rä­te an Lebens­mit­teln über­haupt waren mager gewor­den. Aber da, wo etwas fehl­te, hat­te man den Stand auf ande­re Wei­se wie­der her­aus­staf­fiert mit Din­gen, die zu kau­fen jedem erlaubt war ohne amt­li­che Genehmigung.

Da gab es alles, was kunst­fer­ti­ge Hän­de aus Holz schnit­zen, aller­lei höl­zer­nes Spiel­zeug, Wet­ter­häus­chen und Pup­pen­köp­fe fürs Kas­per­le­thea­ter, Quir­le, Rühr­löf­fel und Holz­pan­ti­nen. Kin­der mus­ter­ten sach­ge­mäß das ange­bo­te­ne Spiel­zeug mit den Gesich­tern von Erwach­se­nen, am Stiel vor sich her­tra­gend eine gro­ße Wol­ke von süßem, roten Schaum, an dem sie genie­ße­risch nagten.

Wir taten es ihnen nach. Natür­lich schmeck­te es nach nichts. Es war Ersatz, aber was für ein präch­ti­ger, locken­der wehen­der Ersatz für soli­de­res Naschwerk.

Die Schaum­wol­ke vor uns her­tra­gend, schlen­der­ten wir vor­bei an den Buden vol­ler Glas­ku­geln, Per­len­ge­hän­ge und flim­mern­dem Tand, an den Stän­den vol­ler Blu­men, mit Tan­nen­rei­sig aus­ge­schmückt, die wie bun­te Tup­fen hier und da ein­ge­streut waren.

Auf der Stra­ße drü­ben — Maria stieß mich an und deu­te­te mit dem Stiel ihrer Schaum­flo­cke hin­über — fuhr eben eine Stra­ßen­bahn vor­bei, geschmückt mit Tan­nen­grün und lan­gen Ket­ten wei­ßer Papier­blu­men. Man konn­te vorn das Hoch­zeits­paar sit­zen sehen, die Braut im wei­ßen Staat und rosig behaucht von Glück, und hin­ter ihnen und um sie die fest­lich geklei­de­te Ver­wandt­schaft, Onkels und Tan­ten und das Eltern­paar vom Lan­de, alle städ­tisch ange­tan, dem hohen Fest zulie­be. Über ihren Gesprä­chen ver­ga­ßen sie nicht, die Bli­cke nach drau­ßen schwei­fen zu las­sen, ob die fei­er­li­chen Anstal­ten auch die gebühr­li­che Auf­merk­sam­keit fän­den. Die fan­den sie. Die Kin­der blie­ben ste­hen mit offe­nem Mund und ver­ga­ßen ihren Schaum am Stiel. Auch die Erwach­se­nen blie­ben ste­hen und lächel­ten den Fah­ren­den zu, und eine alte Frau schlug das Kreuz wie einen Segen für das jun­ge Paar.

Über Mari­as Gesicht ging ein Schatten.

Ich möch­te wis­sen, war­um man bei Hoch­zei­ten immer so lus­tig ist”, sag­te sie düs­ter. „Wie kön­nen die alle wis­sen, was die Frau erwartet?”

Wie kön­nen sie wis­sen, was den Mann erwar­tet?” frag­te ich. „Schließ­lich ris­kie­ren sie ja bei­de etwas.”

Ich glau­be, von Män­nern kommt mehr Unglück als von Frau­en”, sag­te sie bit­ter. „Die Frau­en sind nur still und tra­gen es halt in Got­tes Namen. Aber das ist nichts für mich.”

Ich habe nun mal das Bild Ihres Man­nes gese­hen”, sag­te ich zögernd. „Ich fin­de, er sieht gar nicht so aus, als könn­te er eine Frau so unglück­lich machen.”

Oh, er ist edel”, sag­te sie mit zor­ni­gem Nach­druck. „Er ist der edels­te Mensch, den ich je gekannt habe. Des­halb habe ich ihn ja gehei­ra­tet. Aber auch der edels­te Mensch kann uner­träg­lich wer­den, wenn ihm immer ande­re Din­ge wich­ti­ger sind als sei­ne Frau, wenn er an ihnen hängt wie an sei­nem Leben, wäh­rend die Frau nur neben­her zu lau­fen hat wie ein gefäl­li­ges, aber im Grun­de doch läs­ti­ges Anhängsel.”

Aus wel­chem Grund hat er Sie dann geheiratet?”

Sie zuck­te die Ach­seln. „Er sagt, er liebt mich. Viel­leicht tut er das auch — auf sei­ne Wei­se. Ein­mal hat­te ich sel­ber das Gefühl. Ich war sehr krank, wir waren schon ver­hei­ra­tet, und ich bekam plötz­lich Diph­the­rie, lächer­lich, eine Kin­der­krank­heit als ver­hei­ra­te­te Frau. Aber es war scheuß­lich, ich war oft nahe am Ersti­cken. Die Sprit­zen ver­trug ich nicht, das Herz mach­te nicht mehr rich­tig mit. Damals ging er nicht von mei­nem Bett. Plötz­lich ganz nahe am Tode merk­te ich, dass er mich wirk­lich lieb­te. Das hat mich wohl gesund gemacht. Aber wozu? War­um zei­gen Men­schen eigent­lich immer nur dann ihre Lie­be, wenn sie etwas ver­lie­ren sollen?”

Ich wuss­te kei­ne Ant­wort. Wir waren zu der Stel­le gekom­men, wo der Markt zum Jahr­markt wur­de. Den Karus­sells zulie­be war hier die stren­ge Ord­nung der Rei­hen auf­ge­löst. Eine Schieß­bu­de stell­te sich uns quer in den Weg.

Noch ehe ich begriff, was geschah, war Maria dar­auf zuge­gan­gen, hat­te ein paar Kro­nen­schei­ne auf den Tisch gelegt und nach dem Gewehr gegrif­fen, das die rot­ba­cki­ge Buden­be­sit­ze­rin ihr mit ungläu­bi­gem Lächeln reich­te. Ich trat neben sie. Nichts hat­te ich jetzt weni­ger erwar­tet als das. Scheu sah ich ihr von der Sei­te her zu. Sie hat­te den Kopf zurück­ge­lehnt. Das weiß­blon­de Haar fiel ihr tief in den Nacken. Ihr Kör­per hat­te sich gestrafft, die Kon­tu­ren des Gesichts, die sonst immer nur ver­wischt schie­nen, waren gespannt und klar.

Da stand sie, das Gewehr an der Wan­ge, eine jun­ge Göt­tin der Jagd, schön. wie ich sie nie vor­her gese­hen hat­te, aber schreck­lich zugleich.

Da knall­te der Schuss. Man sah den Bol­zen nicht, er steck­te in der schwar­zen Mit­te. Die Frau zog ihn her­aus, in den Mie­nen stand Respekt. Sie klapp­te das Schloss auf, setz­te den nächs­ten Bol­zen ein. Kin­der und Erwach­se­ne blie­ben hin­ter uns ste­hen. Maria hob das Gewehr an die Wan­ge, ohne sich umzu­se­hen, ohne ein Wort. Sie ziel­te, schoss ohne zu zögern und traf wie­der. Auch der drit­te Bol­zen saß in dem schwar­zen Feld in der Mit­te. Jetzt leg­te sie das Gewehr hin. Eine Locke war ihr ins Gesicht gefal­len, sie strich sie zurück. Ihr Gesicht war gerö­tet, ange­strengt und erregt.

Die Leu­te klatsch­ten. Sie lächel­te halb ver­le­gen. Die Frau gab ihr einen klei­nen Bären, nicht grös­ser als eine Hand. An den Prei­sen muss­te offen­bar gespart wer­den, wenn das Geschäft sich aus­zah­len soll­te. Aber er war nied­lich, hat­te hel­les, sei­den­wei­ches Fell und freund­li­che Knopf­au­gen. Wir tra­ten aus dem Kreis, der sich gebil­det hat­te und gin­gen wei­ter. Sie gab mir den Bären.

Da, neh­men Sie ihn — als Andenken.”

War­um behal­ten Sie ihn nicht — als Andenken? Ich hät­te nie geglaubt, dass Sie über­haupt schie­ßen kön­nen und gar so!”

Das hat er mich auch gelehrt, da war er gründ­lich. Dabei moch­te ich es gar nicht, zu schie­ßen, er wuss­te das sogar. Aber so kommt es dann. Ich has­se es zu schie­ßen, und trotz­dem bin ich stolz, dass ich drei­mal getrof­fen habe. Natür­lich bin ich stolz. Aber gleich­zei­tig ist es mir zuwi­der, ich brau­che kei­ne Erin­ne­rung dar­an. Neh­men Sie ihn nur!”

Er ist so hübsch! ” Ich strei­chel­te über das fei­ne Fell.

Es ist im Gro­ßen nicht anders”, fuhr sie fort, und ich merk­te, wie sie schon wie­der zurück­wich in den Schat­ten. „Sie wol­len das Gute, aber die Mit­tel sind böse, müs­sen böse sein. Es ist nett, dass ich einen Ted­dy­bä­ren für Sie geschos­sen habe” — sie lächel­te, als sie merk­te, was sie gesagt hat­te, „wenigs­tens fin­de ich es ganz nett. Aber ich has­se Waf­fen. War­um kann man die Welt nicht las­sen, wie sie ist? Oder sie wenigs­tens behut­sam ver­än­dern? Wie das wei­che Was­ser in Bewe­gung mit der Zeit den mäch­ti­gen Stein besiegt. Du ver­stehst: das Har­te unterliegt.”

Das ist gut, — woher haben Sie das?” Sie sah mich von der Sei­te an, halb miss­trau­isch, halb, als erken­ne sie mich erst jetzt. Aber mei­ne Fra­ge war ganz naiv, eine Fra­ge nach schö­nen Wor­ten, nicht nach dem Sinn.

Ich habe es kürz­lich mal im Radio gehört, irgend­wo, kei­ne Ahnung”, erwi­der­te sie gleich­gül­tig und bog unver­mit­telt zu den Luft­schau­keln ab. Sie zahl­te und war ein­ge­stie­gen, bevor ich hin­ter­her­kam. Nach eini­gem Zögern ent­schloss ich mich lie­ber für das Ket­ten­ka­rus­sell, das neben­an sei­ne Krei­se schwang.

Als ich wie­der aus­stieg, stand Maria an einer Bude, vor der ein Aus­ru­fer den Zuschau­ern offen­bar uner­hör­te Wun­der ver­hieß, wenn sie sich ent­schlie­ßen könn­ten, fünf Kro­nen für den Ein­tritt in sei­ne Bude zu erle­gen. Neben ihm stand ein unschein­ba­rer, klei­ner Mann, zwer­gen­haft, eine Pup­pe offenbar.

Sehen Sie sich das an”, sag­te Maria. „Es ist wirk­lich erstaun­lich. Ich ste­he jetzt schon eine Wei­le hier. Der Mann rührt sich nicht.”

Ich betrach­te­te die Figur mit dem knol­li­gen Gesicht, wie man es manch­mal an Wachs­pup­pen fin­det, die drol­lig wir­ken sol­len: knol­li­ge Nase, knol­li­ge Wan­gen, knol­li­ges Kinn, aber dabei nicht die fri­schen Far­ben einer Pup­pe, son­dern abge­tra­ge­ne leder­ar­ti­ge Haut, sehr lebens­echt gemacht. Die Pup­pe trug eine Livree mit Lit­zen und Gold­knöp­fen, sie war abge­wetzt und hat­te ihren Glanz ver­lo­ren. Vie­le Jahr­märk­te moch­ten ihr mit ihrer Son­ne und mit ihrem Regen die Far­be aus­ge­wa­schen haben. An Armen und Bei­nen der Figur waren Dräh­te befes­tigt, die von der Decke des Podi­ums her­ab­hin­gen. Der Aus­ru­fer mit einem Cow­boy­hut und Gold­fran­sen an den Hosen deu­te­te hin und wie­der auf die Pup­pe, die kei­ner­lei Mie­ne mach­te, ihre Küns­te zu zeigen.

Es ist kein Mann”, sag­te ich. „Es ist eine Pup­pe. Wozu wären sonst die Dräh­te da?”

Maria zuck­te die Ach­seln. „Ich weiß nicht. Ich mein­te vor­hin, er hät­te sich ein klein wenig bewegt. Aber viel­leicht ist auch bloß jemand ange­sto­ßen. Ich kann mir auch nicht den­ken, dass ein Mensch so lan­ge so still ste­hen kann.”

Eini­ge der Zuschau­er lie­ßen sich locken, erklom­men die Stu­fen zum Podi­um, zahl­ten und ver­schwan­den hin­ter dem dunk­len Vor­hang. Sie wür­den drin eine gan­ze Wei­le zu war­ten haben, ehe sich der Raum gefüllt hat­te. Es war nicht abzu­se­hen, wie lan­ge wir noch ste­hen müss­ten, um zu erfah­ren, ob es ein Mann oder eine Pup­pe war, und es war nicht ein­mal sicher, ob wir es dann erfah­ren würden.

Jetzt deu­te­te der Aus­ru­fer wie­der auf sei­nen Lock­vo­gel. Der hob jetzt einen Arm, lang­sam, ruck­haft, mecha­nisch. Es war die Bewe­gung einer Pup­pe. Er senk­te ihn wie­der, hob den Anderen.

Die Bewe­gung war nicht mensch­lich, ganz ohne Zwei­fel. Es war eine Pup­pe. Jetzt hob der Mann sie an den Ell­bo­gen hoch und setz­te sie ein Stück zur Sei­te. Sie stand wie aus Holz.

Sie sehen doch, es ist eine Pup­pe” sag­te ich, „Wir kön­nen hier noch ewig ste­hen. Kom­men Sie, wir gehen!”

Wir hat­ten seit­wärts vor der Bude gestan­den, jetzt gin­gen wir an ihr vor­bei, immer noch die Augen auf die Pup­pe gerich­tet. Plötz­lich traf mich etwas wie ein Don­ner­schlag, durch die Augen brach es her­ein und ras­te durch alle Glie­der. Ich schloss die Augen, aber der Spuk war noch nicht vor­bei. Ich war ste­hen­ge­blie­ben, mir war, als könn­te ich nicht von der Stel­le. Und es war wie ein uner­träg­li­cher Zwang, die Augen wie­der zu öff­nen und noch ein­mal in der­sel­ben Rich­tung zu sehen. Aber ich konn­te es nicht und woll­te es nicht und wür­de es nicht tun. So stand ich ein paar Augen­bli­cke lang da, die Augen fest zuge­presst, wie an den Boden geschmie­det, und wuss­te nicht, wie ich von hier fort­kom­men sollte.

Was ist Ihnen?” frag­te Maria und nahm mich am Arm. Ihre Stim­me war sanft, ein Gegen­zau­ber schien dar­in zu sein. Ich konn­te wie­der gehen und mei­ne Augen in eine ande­re Rich­tung öff­nen. Aber in mei­nen Knien war eine Schwä­che, die ich kaum über­win­den konnte.

Ist Ihnen nicht gut?” frag­te Maria noch ein­mal. „Wol­len wir lie­ber nach Hau­se gehen?”

Es ist ein Mensch!” sag­te ich statt einer Antwort.

Ich weiß”, erwi­der­te sie. „An den Augen konn­te man es sehen.“

Sie hat­te auch die Augen gese­hen! Aber in ihnen hat­te sie nicht gese­hen, was ich gese­hen hat­te. Die­se Erkennt­nis berühr­te mich fast noch grau­si­ger als der Blick in die Augen die­ser Mario­net­te. Wie­der muss­te ich an Undi­ne den­ken und wie sie mit Küh­le­born, dem Was­ser­geist, Zwie­spra­che hält zum Schre­cken der Menschen.

Ich wag­te nicht, zu sagen, was ich gese­hen hat­te. Aber in mir beweg­te ich es hin und her, was da gesche­hen sein konn­te. Es gab nur eine Erklä­rung dafür: die­ser Mann stand nicht so still, weil er sich beherr­schen konn­te. Eine sol­che Beherr­schung durch so lan­ge Zeit war fast unmög­lich, hät­te eine über­mensch­li­che Kraft gekos­tet. Er stand dar­um so still, weil er sich sel­ber ganz aus dem Kör­per zurück­ge­nom­men hat­te, ihn allein gelas­sen hat­te wie ein lee­res Gefäß. Alle Kräf­te aber, die wir Ande­ren stän­dig an bewuss­te oder unbe­wuss­te, sinn­vol­le oder sinn­lo­se Bewe­gung ver­schwen­den, waren gesam­melt in sei­nen Augen. Nur dort exis­tier­te er, und exis­tier­te so sehr, dass es mich getrof­fen hat­te wie ein elek­tri­scher Schlag.

Die­ses fana­ti­sche Zurück­neh­men aller Kräf­te auf einen ein­zi­gen Punkt beschäf­tig­te mich noch lan­ge. Und noch lan­ge dach­te ich an den klei­nen geschun­de­nen, her­um­ge­sto­ße­nen Mann auf dem Jahr­markt, der mich die­ses Geheim­nis gelehrt hat­te, wahr­schein­lich ohne mich wirk­lich zu bemerken.

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