28. August
Etwa zehn Kilometer vor Teheran taucht neben der Straße der größte und erbärmlichste Slum auf, den wir bislang gesehen haben. Wer hier einen fensterlosen Lehm- oder Zementwürfel sein eigen nennt, gehört wohl schon zu den Bessergestellten. Es gibt auch Behausungen, die nur aus Wellblech und Pappe zu bestehen scheinen.
Ich bin ehrlich schockiert.
Das zu fotografieren, erscheint mir nicht richtig, aber dann tue ich es doch – allerdings nur aus der Entfernung und in einem Moment, als sich keine Einheimischen in der Nähe des Busses befinden, die es bemerken könnten.
Als die Skyline von Teheran in Sicht kommt, bin ich froh, dass ich die Elendsquartiere fotografiert habe. Denn ich glaube, dass ich den Kontrast zwischen diesen menschenunwürdigen Hütten und den modernen Hochhäusern der Hauptstadt mit Worten nie so gut beschreiben könnte, wie ein Bild ihn darstellen kann…
Wir fahren auf einer mehrspurigen Pracht-Allee in die Stadt hinein.
Links und rechts erheben sich Büro- und Shopping-Paläste aus Beton und Glas, und die teuer aussehenden Geschäfte mit ihren großen Schaufenstern könnten auch die zentrale Einkaufsstraße einer südeuropäischen Metropole säumen.
Auch die gut gekleideten Menschen, die an den Auslagen der Geschäfte entlang flanieren, unterstreichen diesen Eindruck; sogar einige Frauen ohne Kopftuch und in gerade mal knielangen Röcken bekommen wir zu sehen.
Doch die Illusion europäischer Lebensart verfliegt in dem Moment, als Rolf von der Hauptstraße abbiegt und wir in einen der älteren Stadtteile kommen – wo es, wie unser Fahrer gestern Abend auf dem Campingplatz erfahren hat, eine Mercedes-Niederlassung geben soll.
Es gibt sie, und Rolf hat sie erstaunlich schnell gefunden.
„Sie haben keine Frontscheibe für einen 608 da,” verkündet er nach einer kurzen Unterredung mit dem Werkstatt-Chef.
„Aber sie haben mehrere 508er-Scheiben, und nun nehmen sie halt die.”
„Aber ein 508 ist doch ein ganzes Stück niedriger?” fragt Ulli.
„Stimmt. Da müssen die sich wohl was einfallen lassen,” meint Rolf unbekümmert, und, an uns gewandt: „das wird hier bestimmt noch ein paar Stündchen dauern. Ihr könnt euch also – bis etwa, sagen wir mal, drei Uhr – ein wenig die Stadt angucken. Normalerweise fahr ich hier ja immer schnell durch, deshalb kann ich euch kaum Tipps geben… Ich kenn nur das „Amir Kabir Hotel”, das ist so ‘ne Art Pudding Shop auf persisch. Das findet ihr irgendwo an der breiten Straße da vorn, ich glaube, links runter.”
Inge und ich, seit Istanbul ein eingespieltes Team, ziehen zusammen los.
Zuerst gehen wir in Richtung „Amir Kabir”.
Da ein Zwischenstop in Teheran nicht geplant gewesen und nur der zerstörten Windschutzscheibe zu verdanken ist, hatten wir ja gar nicht damit gerechnet, auch diesen legendären Hippie-Treff persönlich in Augenschein nehmen zu können.
In dem Hotel angekommen, sind wir allerdings enttäuscht – es ist eng und schäbig, und im angeschlossenen Restaurant gibt es nur eine sehr kleine Auswahl an teuren und (wie wir feststellen, als wir in Ermanglung von Alternativen trotzdem etwas bestellen) nicht sonderlich schmackhaften Gerichten.
Nach dem Essen trinken wir einen Tee in der Hotel-Lobby und inspizieren das dortige „Schwarze Brett”, auf dem sich ähnliche Nachrichten, Tipps und Sprüche finden wie auf dem des Pudding Shops in Istanbul. Einen Text finde ich so lustig, dass ich ihn abschreibe:
Don’t worry
There are allways two possibilities:
You feel good, or you don’t feel good.
If you feel good, you don’t have to worry.
If you don’t feel good, there are two possibilities:
You are healthy, or you are sick.
If you are healthy, you don’t have to worry.
If you are sick, there are two possibilities:
You will get well again, or you will die.
If you get well again, you don’t have to worry.
If you die, there again are two possibilities:
You will fly up to heaven, or you will go down to hell.
If you fly up to heaven, you don’t have to worry.
And if you go down to hell, you’ll be so damn busy
shaking hands with all your old friends,
that you won’t have time to worry at all!
Wir haben noch zwei Stunden Zeit, und ich erzähle Inge, dass ich mir gern so einen Wasch-Handschuh aus Ziegenhaar kaufen würde, wie ihn die Badefrau im Istanbuler Hamam hatte. Sie bezweifelt zwar, dass wir so etwas hier finden werden – aber versuchen könnten wir es ja…
Tatsächlich entdecke ich in einem Haushaltswarengeschäft etwas in der Art des Peeling-Handschuhs, mit dem die Natir mich bearbeitet hat. Allerdings ist dieses Stück hier aus Sisal und vermutlich eher zum Topfschrubben gedacht, aber das ist mir egal.
Die Männer in dem Laden kichern und benehmen sich höchst sonderbar, und es dauert eine ganze Weile, bis ich einen von ihnen dazu bringen kann, für den Schrubb-Handschuh zu kassieren.
„Irgendwie fühle ich mich die ganze Zeit wie ein Marsmensch, so wie die einen hier anstarren,” meint Inge unbehaglich, als wir wieder draußen sind. „Dabei sind wir doch ganz züchtig bekleidet, Arme und Beine sind bedeckt…”
Während wir auf eine Lücke in dem mörderischen Verkehr warten, damit wir die Straße überqueren können, sehen wir uns um, um unser Outfit mit dem der Frauen in diesem Teil Teherans zu vergleichen.
Und stellen schockiert fest, dass es hier scheinbar keine gibt — keine mit und keine ohne Kopftuch, weder vermummte noch unvermummte. Nicht ein einziges weibliches Wesen ist weit und breit zu sehen, noch nicht einmal in den Haushaltswaren- oder Lebensmittelläden. Nur Männer aller Altersgruppen, von den viele – vor allem die jüngeren – händchenhaltend unterwegs sind.
„Das ist irgendwie gespenstisch,” sage ich zu Inge, und wir beeilen uns, über die breite Straße und zurück zum 608 zu kommen.
Die Mechaniker in der Mercedes-Werkstatt haben sich mittlerweile Bemerkenswertes einfallen lassen – sie haben die 508-Frontscheibe eingepasst und sind gerade dabei, einen Streifen aus einer weiteren 508-Windschutzscheibe so zurechtzuschneiden, dass er die noch offene Lücke füllt. Mithilfe eines (deutschen) „Spezial-Klebers” werden dann die beiden Glasscheiben aneinandergefügt.
Alle Passagiere sind inzwischen wieder beim Bus eingetroffen – und sich einig: Teheran ist mit Istanbul nicht zu vergleichen. Niemanden von uns würde es reizen, hier mehrere Tage zu verbringen. Wir sind alle froh, als es endlich weiter geht.
Rolf überlegt schon, ob er mal wieder eine Nacht durchfährt – bis nach Mashad, wo wir ohnehin noch mindestens einen Tag verbringen werden, weil man dort so lange auf ein Visum für Afghanistan warten muss.
Leider findet unser Fahrer die richtige Ausfahrtstraße nicht auf Anhieb.
Nachdem wir eine Weile in einer öden, nach Vorstadt aussehenden Gegend herumgefahren sind, ohne dass ihm irgendetwas bekannt vorkommt, hält er schließlich neben einer am Straßenrand herumstehenden Gruppe iranischer Jugendlicher an.
Catherine öffnet die Seitentür, und Rolf – hoffend, dass ein oder zwei des Englischen mächtig sind – fragt nach der „Road to Mashad”.
Die jungen Männer fangen an, diese Frage hitzig zu diskutieren.
„I show you, I show you!” ruft schließlich der lauteste unter ihnen aus.
Ehe jemand von uns begreift, was da passiert, klettert er in den Bus, schubst Catherine – ohne sie dabei auch nur anzusehen (den Blick hält er stur auf unseren Fahrer gerichtet) – vom Beifahrersitz, nimmt dort Platz und beginnt, Rolf die Fahrtroute zur Ausfahrtstraße Richtung Osten zu erklären: „First you go right, and then…”
Da hat Catherine ihre Verblüffung aber bereits überwunden, sich vom Boden des Busses aufgerappelt und stürzt sich auf ihn wie eine Furie.
„You bloody fucking bastard, who do you think you are,” faucht sie den Iraner an und versetzt ihm einen heftigen Stoß, der ihn nicht nur vom Beifahrersitz, sondern gleich die Stufe hinunter und ganz aus dem Wagen befördert.
Der junge Mann klammert sich an die Wagentür und beschimpft sie mit zornesrotem Kopf auf Farsi, während er wieder einzusteigen versucht – was Catherine verhindert, indem sie sich am Sitz festklammert und nach ihm tritt. Derweil fangen auch seine Freunde auf dem Bürgersteig an, aufgeregt und aggressiv herumzuschreien.
Rolf fährt langsam an und gibt dann mehr und mehr Gas, bis der wütende, neben dem Bus her rennende Kerl die Wagentür loslassen muss und Catherine sie endlich wieder schließen kann.
Im ersten Moment sagt Niemand im Bus etwas, aber ich meine ein kollektives, erleichtertes Aufatmen zu hören… Schließlich spricht Anna aus, was alle denken: „Wow – das hätte bös’ ins Auge gehen können. Was für ein Arschloch!”
Nach dem Weg gefragt wird nun nicht mehr.
Unser Fahrer fährt einfach solange umher, bis er auf einer der Hauptstraßen gelandet ist und wieder weiß, wie er aus dem Moloch Teheran herauskommt.
Aus seinem Plan, bis nach Mashad durchzufahren, wird aber trotzdem nichts.
Am späten Nachmittag erreichen wir mitten im Gebirge das Ende einer offenkundig viele Kilometer langen Autoschlange. Es handelt sich nicht um einen Stau, nein, die Wagen stehen. Die Insassen vieler Fahrzeuge sind ausgestiegen und stehen in Grüppchen am Straßenrand und unterhalten sich. Einige haben begonnen, auf provisorischen Kochstellen Mahlzeiten zuzubereiten.
Rolf weiß sofort, was los ist.
Er stellt den Motor ab und verkündet: „Schluss, aus, das war’s für heute. Da vorn ist irgendwo eine Steinlawine runtergekommen, und jetzt müssen sie erst einmal eine neue Straße in den Felsen sprengen. Das dauert bestimmt die ganze Nacht. Also lasst uns jetzt zu Abend essen, und dann werden wir zur Abwechslung mal wieder allesamt im Bus übernachten…”