14. Hasta la vista, Kabul

11. Sep­tem­ber

Je n’ai pas dor­mi bien,” erzählt Enri­que mir am nächs­ten Mor­gen, er habe nicht gut geschlafen.

Na toll, den­ke ich, ver­mut­lich aus dem glei­chen Grund wie ich, und ich kom­me mir ein biss­chen vor die Königs­toch­ter aus der alten Bal­la­de – „sie konn­ten zuein­an­der nicht kommen…”

Aber wenn man mit die­ser über­mü­ti­gen Ras­sel­ban­de zusam­men ist, ist es ein Ding der Unmög­lich­keit, lan­ge Trüb­sal zu bla­sen. Ohne sie erst zu fra­gen, haben Inge und ich Tee und Toast für alle bestellt, und unser gemein­sa­mes Früh­stück im Hof des Hotels zieht sich über eine Stun­de hin.

Als die Spa­ni­er auf­bre­chen, um erneut ihr Glück im Dschun­gel der afgha­ni­schen Büro­kra­tie zu ver­su­chen, ver­las­sen auch wir das Hotel, um uns in der Chi­cken Street nach ein paar Mit­bring­seln umzu­schau­en. Schließ­lich wer­den wir Kabul schon mor­gen früh in Rich­tung Paki­stan verlassen.

Doch irgend­wie will sich das übli­che Ver­gnü­gen am Feil­schen und Shop­pen bei uns nicht einstellen.

Der Anblick von Sil­ber­schmuck, Samt- und Sei­den­stof­fen, der sonst mein Herz zum Klop­fen bringt, lässt mich heu­te völ­lig kalt. Es kommt mir gera­de­zu unan­stän­dig vor, Geld für sol­chen Schnick­schnack aus­zu­ge­ben, wäh­rend unse­re Freun­de sich nicht ein­mal eine war­me Mahl­zeit am Tag leis­ten kön­nen und sich all­abend­lich für die unap­pe­tit­li­che Armen­spei­sung durch­ge­knall­ter Sek­ten­jün­ger anstel­len müssen.

Weißt du was,” sage ich zu Inge, „ich habe in Herat und in Kabul viel weni­ger Geld aus­ge­ge­ben als geplant. Ich mach’ nach­her im Hotel mal Kas­sen­sturz und schau, wie vie­le Dol­lar ich erüb­ri­gen kann. Und die schenk ich dann mor­gen früh den Spa­ni­ern zum Abschied.”

Das ist zwei­fel­los eine lobens­wer­te Idee – aber, mal ehr­lich, soll­test du die­se Reser­ve nicht lie­ber behal­ten? Ich mei­ne, wir sind erst in Kabul; du könn­test krank wer­den oder aus einem ande­ren Grund plötz­lich mehr Geld benö­ti­gen als gedacht…?”

Ich war gera­de krank, und das hat nicht viel gekos­tet. Im Gegen­teil, es hat mir all die Aus­ga­ben für Ein­kauf­strips und Restau­rant­be­su­che erspart!”

Inge grinst.

Du weißt genau, was ich mei­ne. Aber wenn du sicher bist, dass du das machen willst, dann tu es.”

Ich bin mir sicher,” nicke ich.

Gesagt, getan.

Statt Sou­ve­nirs kau­fen wir nur ein paar Bro­te und Toma­ten (Zwie­beln haben wir noch mehr als genug) und gehen dann ins Hotel zurück.

Dort brei­te ich mei­ne Tra­vel­ler Schecks und das Bar­geld – Dol­lars, D‑Mark und Afgha­nis – auf mei­nem Bett aus und ver­su­che mir zum ers­ten Mal einen Über­blick dar­über zu ver­schaf­fen, wie viel ich seit mei­ner Abrei­se eigent­lich aus­ge­ge­ben habe. Und wie viel ich in den nächs­ten acht bis zwölf Wochen vor­aus­sicht­lich noch brau­chen wer­de, inklu­si­ve des Betra­ges für ein Flug­ti­ckets Delhi – Deutsch­land, das nach Rolfs Aus­kunft zwi­schen 300 und 350 Dol­lar kos­ten wird.

Inge hält eine Kas­sen­bi­lanz für eine pri­ma Idee und zählt ihre Geld­vor­rä­te ebenfalls.

Tat­säch­lich habe ich um die 200 Dol­lar (etwa 500 Mark) mehr im Geld­beu­tel als ver­mu­tet, und auch Inge ist noch „rei­cher”, als sie dach­te. Sie fragt mich, wie viel ich den Spa­ni­ern geben werde.

Weiß ich noch nicht. So drei­ßig, vier­zig Dollar.”

Is it pos­si­ble to have din­ner here in the hotel – like Qua­be­li, for exam­p­le?” fra­ge ich den Hotel-Mana­ger, als ich am Nach­mit­tag im Hof sit­ze, in mein Rei­se­ta­ge­buch schrei­be und mir einen Tee bestel­le. Inge hat sich hin­ge­legt, um ein biss­chen Schlaf nachzuholen.

Er strahlt. „Off cour­se we can make Qua­be­li. You like it?”

Yes, it is very deli­cious! I would like to order Qua­be­li for this evening – for seven persons.”

Der Hote­lier ver­si­chert mir, es wer­de ihm ein Ver­gnü­gen sein, uns am Abend das gewünsch­te Essen ser­vie­ren zu lassen.

Kurz dar­auf tru­deln die Spa­ni­er ein, und heu­te ist es für Enri­que und Car­los nicht so leicht, den Rest der Grup­pe bei Lau­ne zu halten.

In den Amts­stu­ben haben sie wie­der nichts erreicht; hin­zu kommt, dass die bei­den Fran­zo­sen über­mor­gen Afgha­ni­stan mit dem Flug­zeug ver­las­sen wer­den, und nun befürch­ten sie, dass sie mög­li­cher­wei­se nicht län­ger im Hotel blei­ben kön­nen, wenn nicht ein­mal mehr für deren Bet­ten in im Schlaf­saal etwas bezahlt wird.

Da kommt mei­ne Ein­la­dung zu einem lecke­ren Abend­essen gera­de richtig.

Ihre weni­gen, wohl nur der Form hal­ber vor­ge­brach­ten Ein­wän­de ent­kräf­te ich mit dem Hin­weis, dass dies schließ­lich Inges und mein letz­ter Abend in Kabul wäre – und eine Absa­ge einer töd­li­chen Belei­di­gung gleich­kä­me. Natür­lich möch­te kei­ner der Seño­res Inge (die inzwi­schen wie­der aus her­aus gekom­men ist) oder mich belei­di­gen. Und als ich dann noch den gro­ßen Cha­ras-Bro­cken, Ziga­ret­ten und Blätt­chen über den Tisch zu Car­los hin­über schie­be, damit er einen Joint baut, ist die Stim­mung wie­der erstklassig.

Befo­re we lea­ve tomor­row, I will give you thir­ty Dol­lars,” sage ich zu Enri­que und Carlos.

Then you can pay bak­s­hish at the office and get the papers you need.”

Car­los schüt­telt den Kopf, aber ich erklä­re ihm has­tig, dass ich das Geld ent­beh­ren kön­ne. Und dass ich es ihnen nicht schen­ken, son­dern nur lei­hen wolle.

I’ll give you my adress, and when you’re back in Spain, you can send it to me…”

Okay,” er nickt und blickt unsi­cher zu Enri­que hin­über, der eben­falls nickt und ihn dar­auf hin­weist, dass sie ganz bestimmt im „Koochie Hotel” blei­ben dür­fen, wenn sie auch nur einen ein­zi­gen Dol­lar pro Tag zah­len können.

Das wür­zi­ge Reis­ge­richt mit Lamm­fleisch am Abend ist sehr lecker, fast so gut wie das, was es bei Moham­mad in Herat gab. Die sonst so red­se­li­gen Spa­ni­er wer­den ganz still, nur gele­gent­li­ches ist ein genie­ße­ri­sches Seuf­zen oder Schmat­zen zu hören.

Als Des­sert gibt es eine Art süßen Grieß­pud­ding, und danach reibt sich Guil­ler­mo stöh­nend den run­den Bauch und behaup­tet, nie wie­der von der Bank auf­ste­hen zu können.

Der Hotel­be­sit­zer rät ihm zu Tee mit Kar­da­mom, der wür­de die Ver­dau­ung anre­gen. Wir bestel­len zwei Kan­nen davon.

Satt und zufrie­den und ein wenig schläf­rig sit­ze ich am Tisch und schaue zu, wie Car­los eine wei­te­re Tüte bas­telt, als Enri­que sich zu mir neigt und mich fragt, ob ich Lust auf einen Spa­zier­gang mit ihm hät­te. Selbst­ver­ständ­lich habe ich Lust.

Ich schla­ge vor, zuerst zu „Sigis Restau­rant” zu gehen, da ich wis­sen will, wie viel Zeit Inge und ich mor­gen früh bis dort­hin brau­chen wer­den. Aber als wir dort ankom­men, habe ich schon voll­kom­men ver­ges­sen, auf die Zeit zu ach­ten, so hin­ge­ris­sen bin ich von mei­nem Beglei­ter und dem, was er erzählt.

Mitt­ler­wei­le funk­tio­niert die Kom­mu­ni­ka­ti­on zwi­schen uns näm­lich präch­tig; er redet spa­nisch, fran­zö­sisch, ab und zu eng­lisch und mit Hän­den und Füßen, ich eng­lisch, ab und zu fran­zö­sisch – und auch mit Hän­den und Füßen. Und wir ver­ste­hen uns wunderbar.

Ich erfah­re, dass er in bereits ein Stu­di­um absol­viert und als Grund­schul­leh­rer gear­bei­tet hat, weil sei­ne Eltern und sei­ne Frau gegen eine Lauf­bahn als Musi­ker waren.

Sei­ne Frau? Ja, er war auch schon ver­hei­ra­tet; sie ließ sich schei­den, als er sei­ne siche­re Posi­ti­on auf­gab, um sei­nen Träu­men zu fol­gen, durch die Welt zu rei­sen und Gitar­re zu spie­len. Alles, was er nach der Tren­nung noch besaß, hat­te er ver­kauft, um mit sei­nen Freun­den nach Nepal fah­ren zu kön­nen – bis auf sei­ne Gitarre.

Und die ist nun auch noch ver­brannt, sage ich betrübt.

Ja, das sei trau­rig, aber er wür­de irgend­wann wie­der eine Gitar­re haben, eine Fen­der, da ist er ganz sicher. Für den Moment sei alles gut so, wie es sei – es gäbe nun nichts mehr, was ihn an sei­ne Ver­gan­gen­heit bin­de, aber die gan­ze Welt läge vor ihm.

Ich nicke und füge hin­zu: „And por de chätt is de best!”

Er lacht.

Wir lachen zusam­men, wir schwei­gen zusam­men, wir tei­len unse­re Träume.

Ich erzäh­le ihm, dass ich das Wort „Kath­man­du” als Kind zum ers­ten Mal gehört und lan­ge nicht gewusst hät­te, dass es einen Ort die­ses Namens tat­säch­lich gibt. Kath­man­du war für mich wie Shan­gri-La, eine Mär­chen­stadt im Reich der Phan­ta­sie. Als Schul­kind erfuhr ich dann, dass Kath­man­du eine real exis­tie­ren­de Stadt ist – und von die­sem Tag an woll­te ich die­se Stadt sehen.

Für ihn ist das nord­in­di­sche Agra so ein magi­scher Ort. Ein Bild des Taj Mahal hat ihn fas­zi­niert und bezau­bert, und weil es eine Luft­auf­nah­me war, hat­te er sich immer wie­der aus­ge­malt, er wür­de eines Tages mit einem Heiß­luft­bal­lon zu die­sem aus Mar­mor und Edel­stei­nen geform­ten Andenken an die gro­ße Lie­be des Shah Jahan reisen…

Wenn er Indi­en und Nepal bereist hat, will er nach Lateinamerika.

Der Kon­ti­nent hät­te den Vor­teil, dass dort – außer in Bra­si­li­en – über­all Spa­nisch gespro­chen wür­de, erklärt er grin­send. Und über­rascht mich im nächs­ten Moment mit einer fast akzent­frei aus­ge­spro­che­nen Bemer­kung auf Englisch:

Life is a long jour­ney. Love, too.”

Ich kann nicht anders. Ich schnap­pe ihn mir und küs­se ihn.

Im nächs­ten Moment schie­be ich ihn schon wie­der von mir weg und sehe mich panisch nach allen Sei­ten um – ver­dammt noch mal, Pau­la, du bist in Afgha­ni­stan, du kannst hier nicht ein­fach in aller Öffent­lich­keit einen Mann küssen!

Ich sto­ße einen Seuf­zer der Erleich­te­rung aus, als ich sehe, dass die von hohen Mau­ern gesäum­te Stra­ße völ­lig men­schen­leer ist. Doch dann fällt mir etwas ande­res auf.

Do you have any idea, whe­re we are?” fra­ge ich Enri­que, der mich mit einem ver­wirr­ten Lächeln ansieht.

No. I tink, we are lost,” ant­wor­tet er fröhlich.

Wir haben uns tat­säch­lich ver­irrt, und es dau­ert fast zwei Stun­den, bis wir aus den rei­nen Wohn­vier­teln, in die wir gera­ten sind, her­aus­ge­fun­den haben und sich vor uns ein ver­trau­ter Platz – der mit dem Super­markt – aus­brei­tet. Von dort fin­den wir leicht zum Hotel zurück.

Im Hof ist es schon dun­kel, offen­bar sind die Ande­ren bereits schla­fen gegangen.

Der Hotel-Mana­ger kommt aus dem Sei­ten­ge­bäu­de, und als ich ihm sage, dass wir uns ver­lau­fen hät­ten und schreck­lich durs­tig sind, bringt er uns zwei Fla­schen Cola.

Ich bit­te ihn, Inge und mich am nächs­ten Mor­gen zu wecken, und er erklärt mir, dass mei­ne Freun­din ihn bereits damit beauf­tragt hätte.

Enri­que dreht einen klei­nen Joint, den wir zu dritt rauchen.

Ich erzäh­le dem Afgha­nen, dass es mir gleich am ers­ten Abend in sei­ner Stadt so ent­setz­lich schlecht ging, das ich nicht mehr dar­an geglaubt hät­te, dass es mir hier jemals gefal­len könn­te. Doch nun, nach nur zwei Tagen in sei­nem Hotel, fän­de ich Kabul ganz wundervoll.

You will tra­vel to Asia again – and of cour­se you will come to Kabul again,” schmun­zelt er.