1. Mit Steve Miller unterwegs

15. August

Mein Vater hat mich mit­samt Schlaf­sack und Kof­fer zum ver­ab­re­de­ten Treff­punkt in Bah­ren­feld gefahren.

Ja, ich habe einen Kof­fer dabei – und damit Rolfs Rat beher­zigt: „Zurück wer­det ihr ja ver­mut­lich flie­gen, und bei den Flü­gen aus Indi­en oder Nepal winkt der Zoll grund­sätz­lich die lang­haa­ri­gen Ruck­sack-Tou­ris­ten raus. Wenn ihr also nicht stun­den­lang gefilzt wer­den wollt, habt bes­ser einen Kof­fer dabei. Und nehmt einen rich­tig sta­bi­len, den man abschlie­ßen kann – und auf dem man bequem sitzt, wenn man mal irgend­wo war­ten muss …”

Paps kann sich gar nicht von dem Bus losreißen.

Immer wie­der klet­tert er in den 608 hin­ein und wie­der her­aus, befragt unse­ren Fah­rer zu den tech­ni­schen Details des Fahr­zeugs und lässt sich die geplan­te Rou­te beschrei­ben. Glück­li­cher­wei­se erklärt Rolf ihm alles ganz gedul­dig und macht dabei offen­bar einen so sou­ve­rä­nen und kom­pe­ten­ten Ein­druck, dass mein alter Herr ihm schließ­lich mit beben­der Stim­me ver­si­chert, er sei nun ganz beru­higt, dass sein „Töch­ting auf die­ser Welt­rei­se in guten Hän­den” sei.

Ein biss­chen pein­lich ist mir das schon, aber irgend­wie fin­de ich sei­ne Auf­re­gung auch ganz süß. Umso leich­ter fällt es mir, eini­ger­ma­ßen cool zu wir­ken. Wenigs­tens hat Paps nicht so ent­setzt auf mei­ne Rei­se­plä­ne reagiert wie Mama, die ihre Hän­de über dem Kopf zusam­men geschla­gen hat, mich bereits als ein Opfer von Mäd­chen­händ­lern und / oder Gift­schlan­gen sieht und über­haupt nicht begrei­fen kann, war­um ich das Geld aus dem Spar­ver­trag nicht eine hüb­sche Schrank­wand oder etwas ähn­lich „Ver­nünf­ti­ges” investiere.

Mein Vater hin­ge­gen, glau­be ich, wür­de am liebs­ten mit nach Nepal fahren.

Nach und nach tru­deln die übri­gen Mit­rei­sen­den ein.

Abge­se­hen von Inge, die von ihrem Freund gebracht wird, kom­men sie alle, mehr oder weni­ger schwer bela­den, zu Fuß von der nächs­ten Bus­hal­te­stel­le. Als sämt­li­che Gepäck­stü­cke ver­staut sind, ruft Rolf: „Alles ein­stei­gen, bit­te!”. An mei­nen Vater gewandt, fügt er grin­send hin­zu: „Letz­te Chan­ce – noch kön­nen Sie mit ….”

Einen Moment lang stockt mir der Atem. Papa wird doch nicht …?

Aber nein, so spon­tan ist er nicht. Eine letz­te Umar­mung, Küss­chen, und dann sit­ze ich im Bus und wir win­ken ein­an­der zu wie wild, wäh­rend Rolf den Motor anlässt. Statt auf die Auto­bahn fah­ren wir aller­dings nur ein kur­zes Stück auf dem Osdor­fer Weg und der Osdor­fer Land­stra­ße – bis nach Flott­beck, wo Rolf den Bus vor einem leicht ram­po­niert wir­ken­dem Häus­chen in einem dschun­gel­ar­tig zuge­wu­cher­ten Gar­ten parkt.

Han­nes und Stef­fen, erklärt unser Fah­rer, sei­en grad ges­tern aus Asi­en zurück­ge­kom­men, und da müs­se man ja unbe­dingt noch „ne Run­de schna­cken”. Wir trot­ten also hin­ter Rolf und Cathe­ri­ne her ins Haus, wo im Wohn­zim­mer schon meh­re­re Leu­te her­um­sit­zen und gebannt den Berich­ten der zwei Rück­keh­rer lauschen.

Es gibt Tee, Kek­se und Dope – das die Bei­den ver­mut­lich mit­ge­bracht haben –, und als man Rolf den Joint reicht und er genüss­lich inha­liert, sehe ich Aga­thes Augen ner­vös zucken. „Und der will heu­te noch auto­fah­ren …” flüs­tert sie Rosi auf­ge­regt zu, aber die meint nur ganz tro­cken: „Das will ich doch stark hof­fen – ich hab näm­lich wenig Lust, hier zu übernachten …”

Die Geschich­ten der bei­den Heim­keh­rer sind durch­aus inter­es­sant – sie waren zum Tre­cking in den Ber­gen Nepals und zuletzt auf den Male­di­ven, wo sie anschei­nend eine gan­ze Insel für sich allein hat­ten und so eine Art Robin­son-Urlaub mit Kokos­nuss- und Fisch-Diät gemacht haben – aber nach zwei, drei Stun­den in dem ver­qualm­ten klei­nen Raum wer­de ich lang­sam unru­hig. Da Rolf sich offen­sicht­lich bes­tens unter­hält und kei­ne Anstal­ten macht, auf­zu­bre­chen, beschlie­ße ich, in den Gar­ten zu gehen.

Im Flur kommt mir Anna ent­ge­gen. „Du willst auch, dass es end­lich los­geht, nicht wahr?” lächelt sie. Ich nicke wort­los und läch­le zurück. Erst als ich zur Tür hin­aus geschwebt bin, mer­ke ich, dass in dem Joint offen­bar ein weit kräf­ti­ge­res Zeug drin war als das, was ich nor­ma­ler­wei­se so ange­bo­ten krie­ge. Es ist spä­ter Nach­mit­tag. Die tief­stehen­de Son­ne taucht den schö­nen wil­den Gar­ten in ein war­mes Licht, in dem die unzäh­li­gen Nuan­cen von Grün leuchten.

Obwohl kei­ne fünf Kilo­me­ter vom Aus­gangs­punkt unse­rer Fahrt ent­fernt, ist es so, als sei ich schon ganz weit weg von der Welt, in der ich bis heu­te gelebt habe. Mit einem Mal fällt alle Span­nung und Unge­duld von mir ab, und ich füh­le mich ganz leicht. Es ist nicht mehr wich­tig, wie lan­ge es noch dau­ert, bis Rolf sich end­lich los­rei­ßen kann: Irgend­wann wird er schon los­fah­ren. Und er wird den Bus bis nach Nepal fah­ren, und ich wer­de dar­in sit­zen, wenn er über die Gren­ze rollt …

Als ich die Haus­tür öff­nen will, um wie­der hin­ein zu gehen, wird sie schwung­voll von innen auf­ge­ris­sen. Rolf steht im Tür­rah­men; hin­ter ihm erken­ne ich Cathe­ri­ne, Ulli und Inge.

Na, Pau­la, was meinst du,” er lacht mich an, „wol­len wir mal los­fah­ren nach Nepal?”

Es wird schon dun­kel, als wir Ham­burg hin­ter uns lassen.

So spar­ta­nisch und rein zweck­mä­ßig der Innen­aus­bau des 608 auch ist – der am Ziel der Rei­se schließ­lich ver­kauft wer­den soll –, an der Musik­an­la­ge (Kas­set­ten­re­cor­der und fet­te Laut­spre­cher) hat Rolf nicht gespart. Wäh­rend die Son­ne in dra­ma­ti­schem Rot, Dun­kel­vio­lett und feu­ri­gem Oran­ge ver­sinkt, erklingt Ste­ve Mil­lers „Book of Dreams”:

… you can be, what you want to, want to, want to …

… and it does not mat­ter, who you are, if you wish upon a star …”

Spät in der Nacht krab­be­le ich hin­ten auf das Podest und lege mich zwi­schen Inge und die Matrat­zen­kan­te, aber obwohl ich tod­mü­de bin, fin­de ich kei­ne Ruhe. Erst als es schon zu däm­mern beginnt, fal­le ich in einen zwei oder drei Stun­den kur­zen, unru­hi­gen Schlaf.

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