5. Alte Gemäuer, junge Herzen

24. August

Die Sul­tan-Ahmet-Moschee in Istan­bul wird „Blaue Moschee” genannt, weil bei den dort zu bewun­dern­den, präch­ti­gen Flie­sen-Mosai­ken Blau die domi­nie­ren­de Far­be ist.

Da eine bild­li­che Dar­stel­lung „beseel­ter” Wesen in der isla­mi­schen Welt ver­mie­den wird – in der sakra­len Kunst und Archi­tek­tur gibt es sogar ein regel­rech­tes „Bil­der­ver­bot” –, zie­ren über­wie­gend flo­ra­le Orna­men­te die Wän­de und Kup­peln des Got­tes­hau­ses. Und zwar zie­ren sie die Innenwän­de und ‑kup­peln, wes­halb die gan­ze Schön­heit des (frag­los auch von außen sehr beein­dru­cken­den) Gebäu­des sich nur dem erschließt, der Gele­gen­heit hat, es auch zu betreten.

Seit dem Ruf des Muez­zins zum Mor­gen­ge­bet ist schon eini­ge Zeit ver­gan­gen, als Inge und ich uns auf den Weg zur Blau­en Moschee machen. Weit haben wir es ja nicht.
Tat­säch­lich ist die Moschee nun wie­der auch zur Besich­ti­gung geöffnet.

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Unse­re Schu­he las­sen wir neben dem Ein­gang stehen.
Einen Moment lang zöge­re ich, als ich sehe, dass die meis­ten der dort bereits auf­ge­reih­ten Paa­re einen weit­aus schä­bi­ge­ren Ein­druck machen als Inges Mar­ken-Turn­schu­he und mei­ne brand­neu­en Leder­san­da­len… Aber dann den­ke ich an den alten Mann von ges­tern – „Allah sieht alles!” – und höre auf, mir Sor­gen zu machen.

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Die Ruhe, die uns drin­nen umfängt, ist die­sel­be, die man auch in christ­li­chen Got­tes­häu­sern erlebt, zumin­dest dann, wenn die­se eben­falls groß und alt sind.

Ich den­ke, die­se beson­de­re Ruhe rührt nicht nur von den dicken Stein­mau­ern her, die Orte wie die­sen vom Lärm der Welt abschir­men. Sie ist viel­leicht auch eine Art Nach­hall der inne­ren Stil­le, Ein­kehr und Besin­nung, die vie­le tau­send Gläu­bi­ge im Lau­fe der Jahr­hun­der­te hier gefun­den haben mögen.
Die­se Atmo­sphä­re der Abge­schie­den­heit – qua­si eine Ver­lang­sa­mung jeder Hek­tik des All­tags und der Außen­welt – scheint mir aber auch die ein­zi­ge Gemein­sam­keit mit einem christ­li­chen Sakral­ge­bäu­de ver­gleich­ba­ren Alters zu sein.

Ich habe noch nie eine Moschee von innen gese­hen, und mein ers­ter Ein­druck ist der von Leere.
Kein prunk­vol­ler, gro­ßer Altar, auf den hin der Raum aus­ge­rich­tet ist, kein Gestühl, kei­ne reich ver­zier­te Orgel oder Orgel-Empo­re, kei­ne Trepp­chen, Gelän­der, Abtren­nun­gen, Beicht­stüh­le, und – natür­lich – kei­ne Dar­stel­lun­gen Got­tes oder sei­ner Hei­li­gen bzw. Pro­phe­ten. Die ver­schlun­ge­nen Orna­men­te der Wand- und Decken­flie­sen und die zahl­lo­sen, teils wohl sehr kost­ba­ren Tep­pi­che auf dem Boden des Kup­pel­saals sind die ein­zi­gen deko­ra­ti­ven Ele­men­te; ansons­ten wirkt der Raum allein durch sei­ne Grö­ße und die wei­he­vol­le Stille.
Die rie­si­gen, an der hohen Decke befes­tig­ten Leuch­ter aus geschwärz­tem Metall hän­gen sehr tief, nicht weit über den Köp­fen der ste­hen­den oder umher­schrei­ten­den Men­schen. Sie brin­gen ein Ele­ment funk­tio­na­ler, moder­ner Innen­ar­chi­tek­tur in den Raum, das erstaun­lich gut mit des­sen kla­ren For­men, dem fein gemus­ter­ten Flie­sen-Wand­schmuck und den klei­nen und gro­ßen Kup­peln harmoniert.

Als wir die Moschee ver­las­sen, schlägt uns die Mit­tags­hit­ze gna­den­los ent­ge­gen. Obwohl die Sul­tan-Ahmet-Moschee bestimmt nicht mit einer Kli­ma­an­la­ge aus­ge­rüs­tet ist, herrscht da drin eine um eini­ge Grad küh­le­re Tem­pe­ra­tur, was mei­ne Hoch­ach­tung vor den begna­de­ten Erbau­ern wei­ter stei­gen lässt.
Unse­re Schu­he sind noch da, wo wir sie ste­hen gelas­sen haben. Wir schlüp­fen hin­ein und schlen­dern gemäch­lich die Allee in Rich­tung Haupt­stra­ße hinab.

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Ich blei­be ste­hen, um noch ein Foto von der Blau­en Moschee aus der Ent­fer­nung zu machen. Als ich gera­de dabei bin, mei­nen Foto­ap­pa­rat wie­der in mei­nem Beu­tel zu ver­stau­en, spre­chen uns zwei jun­ge Tür­ken an. Sie wären Stu­den­ten und wür­den neben­her auch als „Tou­rist Gui­des” arbei­ten – ob wir Inter­es­se an einer Füh­rung durch die Blaue Moschee hätten?

Inge und ich leh­nen lachend ab. Nein, die Moschee hät­ten wir uns gera­de schon ange­guckt, und außer­dem wären wir selbst Stu­den­tin­nen, kei­ne rei­chen Tou­ris­tin­nen, und könn­ten uns kei­nen „Gui­de” leis­ten (geschwei­ge denn zwei).
„No pro­blem,” sagt da der eine der bei­den Jungs, sie hät­ten heu­te eh’ einen frei­en Tag, und es wäre ihnen ein Ver­gnü­gen, uns ihre Stadt zu zei­gen – und zwar kos­ten­los, „for free”.
Ob wir denn schon ent­schie­den hät­ten, was wir uns als Nächs­tes anse­hen woll­ten? Inge und ich bera­ten kurz auf deutsch.

Zwar sind in den letz­ten Tagen schon mehr­fach ähn­li­che Ange­bo­te an uns her­an­ge­tra­gen wor­den, die von uns größ­ten­teils wort­los igno­riert wur­den, aber bei die­sen zwei jun­gen Män­nern ist es anders – in ihren Jeans, T‑Shirts und Turn­schu­hen wir­ken sie tat­säch­lich wie Stu­den­ten (die auch im Ham­bur­ger Uni-Vier­tel nicht auf­fal­len wür­den), und sie spre­chen flie­ßend und bei­na­he akzent­frei eng­lisch. Und, da sind wir einer Mei­nung, sie sehen Bei­de ganz pas­sa­bel aus…

Las­sen wir uns doch ein­fach die Hagia Sophia von ihnen zei­gen, dann wer­den wir schon mer­ken, was sie als Frem­den­füh­rer drauf haben,” schlägt Inge vor.
„Hagia Sophia? A very good choice,” strahlt einer unse­rer bei­den neu­en „Gui­des”, der sich nun als Ali vor­stellt. Sein Freund, etwas schweig­sa­mer, aber eben­so freund­lich lächelnd, heißt Yussuf.

Als wir zusam­men wei­ter­ge­hen, lie­fert Ali schon mal eine Pro­be sei­nes Wis­sens ab und erzählt uns, war­um die Blaue Moschee sechs Mina­ret­te hat, also ein bis zwei mehr, als bei einer Moschee die­ser Grö­ße üblich: Sul­tan Ahmet, der sie Anfang des 17. Jahr­hun­dert erbau­en ließ und nach dem sie auch benannt ist, soll in einem Anfall von könig­li­chem Grö­ßen­wahn von sei­nem Bau­meis­ter ver­langt haben, die Mina­ret­te des Got­tes­hau­ses mit Blatt­gold zu bede­cken. Da das unbe­zahl­bar gewe­sen wäre, der Archi­tekt aber sei­nem Chef nicht wider­spre­chen konn­te, beschloss er ein­fach so zu tun, als habe er den Sul­tan falsch ver­stan­den – das tür­ki­sche Wort für „Gold” klingt näm­lich fast so wie die Zahl „Sechs” auf türkisch…
Also bau­te er dem Sul­tan eine Moschee mit sechs Türmen.
Was umge­hend für einen Rie­sen-Auf­ruhr in der isla­mi­schen Welt sorg­te – denn sechs Mina­ret­te hat­te bis dato nur die Moschee in Mek­ka, und dass eine in Istan­bul eben­so vie­le hat­te, wur­de als Angriff auf die Aus­nah­me­stel­lung des Pil­ger-Ortes gewer­tet. Sul­tan Ahmet blieb schließ­lich nichts Ande­res übrig, als auf sei­ne Kos­ten ein sieb­tes Mina­rett neben der Moschee in Mek­ka errich­ten zu las­sen. Womit die Idee mit dem Blatt­gold wohl end­gül­tig erle­digt gewe­sen sein dürfte.

Bei unse­rem Rund­gang durch die Hagia Sophia erwei­sen sich Ali und Yus­suf als kom­pe­ten­te Gui­des, die ihre Kennt­nis­se dazu noch auf unter­halt­sa­me und zum Teil aus­ge­spro­chen wit­zi­ge Wei­se „an die Frau” brin­gen können.
Ver­gli­chen mit der aus gigan­ti­schen Stein­blö­cken erbau­ten Hagia Sophia kommt mir die auch nicht gera­de klei­ne Blaue Moschee im Nach­hin­ein nun aus­ge­spro­chen ele­gant, gera­de­zu fili­gran vor. Es über­rascht mich weder, dass die ehe­ma­li­ge Kir­che der „Hei­li­gen Weis­heit” mehr als tau­send Jah­re vor der Moschee (532 – 537 n. Chr.) errich­tet wur­de, noch, dass sie in der Spät­an­ti­ke als ach­tes Welt­wun­der galt.
Ich sehe zu den aus rie­si­gen Blö­cken zusam­men­ge­füg­ten Bögen hin­auf und fra­ge mich, wie man die damals, ohne Krä­ne und ande­res Gerät, da wohl hin­auf bekom­men und so exakt anein­an­der fügen konn­te. Am beein­dru­ckends­ten ist zwei­fel­los die zen­tra­le, frei schwe­ben­de Haupt­kup­pel mit einem Durch­mes­ser von mehr als 30 Metern.

Man kön­ne heu­te, meint Yus­suf mit ver­hal­te­ner Stim­me, nicht mehr nach­voll­zie­hen, wie die Archi­tek­ten des Kai­sers (ein byzan­ti­ni­scher Gelehr­ter und ein grie­chi­scher Phy­si­ker / Mathe­ma­ti­ker) es in jener Zeit geschafft haben, eine sta­bi­le Kup­pel so gewal­ti­gen Aus­ma­ßes zu ent­wer­fen… Für die damals größ­te und herr­lichs­te Kir­che der Welt, die sie aus­ge­rech­net in die­ser immer schon erd­be­ben­ge­fähr­de­te Stadt errich­ten mussten!

Yus­suf und Ali zei­gen uns auch die Spu­ren des Umbaus der ortho­do­xen Kir­che in eine isla­mi­sche Moschee, der in den Jahr­zehn­ten und Jahr­hun­der­ten nach der osma­ni­schen Erobe­rung der Stadt am Gol­de­nen Horn erfolgte.
Seit den 30er Jah­ren des 20. Jahr­hun­dert wird die Hagia Sophia, auf eine Anre­gung Ata­türks hin, als Muse­um genutzt, und auch die Spu­ren ihrer christ­li­chen Ver­gan­gen­heit wer­den wie­der sicht­bar gemacht. So wur­den bei­spiels­wei­se christ­li­che Mosai­ke von dem Putz befreit, unter dem sie – wegen des bereits erwähn­ten „Bil­der­ver­bots” – wäh­rend der Nut­zung als Moschee ver­bor­gen waren.
Auch dass eini­ge Ein­bau­ten im Inne­ren der Hagia Sophia (die nicht zuletzt wegen die­ser Ein­bau­ten kaum den Ein­druck stil­ler „Lee­re” hin­ter­lässt) schein­bar zusam­men­hangs­los und „schräg” im Raum ste­hen, hängt mit die­sem Umbau zusammen.
Der Mih­rab bei­spiels­wei­se, jene nor­ma­ler­wei­se dem Moschee-Ein­gang gegen­über lie­gen­de Nische, die die Gebets­rich­tung – also die Rich­tung, in der Mek­ka liegt – anzeigt, befin­det sich in der Hagia Sophia in einer Ecke. Denn natür­lich, erklärt uns Yus­suf, haben die christ­li­chen Erbau­er ihre Kir­che nicht nach Mek­ka, son­dern in Rich­tung Jeru­sa­lem aus­ge­rich­tet. Und das ist, von Istan­bul aus gese­hen, zwar fast die­sel­be Rich­tung, aber eben nur fast…

Die restau­rier­ten christ­li­chen Ele­men­te neben den teil­wei­se äußerst prunk­vol­len isla­mi­schen Ergän­zun­gen, der Gold­glanz ortho­do­xer wie auch osma­ni­scher Insi­gni­en, das har­mo­ni­sche Bild eines byzan­ti­ni­schen Kup­pel­baus mit vier mus­li­mi­schen Mina­ret­ten und, nicht zuletzt, die Dimen­sio­nen der gan­zen Anla­ge sind überwältigend.
Vor allem fin­de ich es groß­ar­tig, dass sich par­tout nicht mehr sagen lässt, wel­che der bei­den Riten, die hier einst prak­ti­ziert wur­den, mehr zum Gesamt­ein­druck beitragen…

Auch wenn dies ver­mut­lich weder den ortho­do­xen Chris­ten noch den Mus­li­men beson­ders gefal­len wür­de – ich, als kei­ner Reli­gi­ons­ge­mein­schaft ange­hö­ren­de „Außen­ste­hen­de”, kom­me zu der Auf­fas­sung, dass gera­de die Tat­sa­che, dass die Hin­ter­las­sen­schaf­ten bei­der Glau­bens­rich­tun­gen sich die Räum­lich­kei­ten der Hagia Sophia „tei­len”, den beson­de­ren Zau­ber die­ses alt­ehr­wür­di­gen Gebäu­des ausmachen.
Und wenn man dann noch bedenkt, dass es sich bei den zwei genia­len Gelehr­ten, die vor fast ein­ein­halb­tau­send Jah­ren die längst ver­schol­le­nen Plä­ne für die­sen wun­der­vol­len Bau erstellt haben, um einen Tür­ken und um einen Grie­chen gehan­delt hat, also um Ange­hö­ri­ge zwei­er angeb­lich „seit jeher” ver­fein­de­ter Völ­ker – dann wird die Hagia Sophia end­gül­tig zu einem Denk­mal für die Blöd­sin­nig­keit aller reli­giö­sen, kul­tu­rel­len und natio­na­len Grenzen.
Zum Stein gewor­de­nen Beweis dafür, dass Men­schen immer dann zu den groß­ar­tigs­ten Leis­tun­gen fähig sind und die fan­tas­tischs­ten Din­ge bewir­ken, wenn sie alle klein­li­chen geis­ti­gen Gar­ten­zäu­ne außer Acht lassen.

Nach der Besich­ti­gungs­run­de sit­zen wir zu viert in einer Tee­stu­be, stär­ken uns mit Çay und dis­ku­tie­ren über Geschich­te, Poli­tik und Religion.
Natür­lich sind Yus­suf und Ali Mus­li­me durch Geburt, aber sie sind kei­ne Gläu­bi­gen. Sie gehen nicht zum Gebet in die Moschee und befol­gen die Ge- und Ver­bo­te Moham­meds ohne Über­zeu­gung und nur soweit, wie es unbe­dingt nötig ist – um den Schein ihren Fami­li­en und den Nach­barn gegen­über zu wahren.
Dafür haben sie ihren Marx gründ­lich gelesen.
Reli­gi­on sei Opi­um für’s Volk, into­niert Ali im Brust­ton der Überzeugung.
Als ich von mei­nem Erleb­nis mit dem ehr­li­chen Fin­der mei­ner Rei­se­kas­se erzäh­le und dass jener sei­ne gute Tat mit sei­nem Glau­ben begrün­det habe, und als ich dann mei­ne, dass Reli­gi­on wohl doch nicht immer nur schlecht sei, lächelt Yus­suf mich an und sagt, dass sol­che Reli­gio­si­tät zwei­fel­los Gutes bewir­ken kön­ne – aber Reli­gi­on an sich trotz­dem schlecht sei.
Als ich ihn ver­ständ­nis­los angu­cke, lacht er und sagt: „That’s dialectic.”

Die Zwei über­zeu­gen Inge und mich, den Plan einer Top­ka­pi-Besich­ti­gung sau­sen zu las­sen. Der ehe­ma­li­ge Wohn- und Regie­rungs­sitz der Osma­nen sei so groß wie eine klei­ne Stadt, beteu­ern sie, und eigent­lich sei sogar ein gan­zer Tag noch zu wenig, um auch nur einen Teil der Gebäu­de und der in ihnen prä­sen­tier­ten Schät­ze zu sehen.
„You bet­ter visit Top­ka­pi, when you come to Istan­bul next time…”

Statt des Muse­ums, für des­sen Besuch man zudem einen statt­li­chen Ein­tritts­preis zah­len müs­se, soll­ten wir uns lie­ber die alten Fes­tungs­an­la­gen ober­halb des Bos­po­rus von ihnen zei­gen lassen.
Wir wil­li­gen ein.
Eine drei­vier­tel Stun­de spä­ter sind Inge und ich nicht mehr so sicher, ob das eine gute Idee war. Wir sind unse­ren „Gui­des” in einen Bus gefolgt, dann irgend­wo tief im Bauch der Metro­po­le wie­der aus- und in einen ande­ren Bus ein­ge­stie­gen – und haben inzwi­schen nicht mehr den lei­ses­ten Schim­mer, an wel­chem Ende der Stadt wir uns eigent­lich mitt­ler­wei­le befinden.
Es scheint in jedem Fall an irgend­ei­nem Rand der Stadt zu sein, denn als wir aus dem zwei­ten Bus aus­stei­gen und zu Fuß wei­ter­ge­hen, machen Gas­sen und Gebäu­de einen zuneh­mend dörf­li­chen Ein­druck. Tou­ris­ten schei­nen sich nicht gera­de häu­fig hier­her zu ver­ir­ren; Inge und ich wer­den offen ange­staunt und Ali und Yus­suf mehr­mals – offen­bar unse­ret­we­gen – angesprochen.

Die Gas­se wird zu einem Weg, und die­ser wird schma­ler und führt berg­auf, bis sich uns hin­ter einer Bie­gung ein phan­tas­ti­scher Aus­blick auf den Fluss hin­un­ter darbietet.

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Nun haben wir auch die Fes­tung erreicht, und Ali, der an der Bus­hal­te­stel­le kurz in einem Lebens­mit­tel­ge­schäft ver­schwun­den und mit zwei wei­ßen Plas­tik­tü­ten in der Hand wie­der her­aus­ge­kom­men war, brei­tet sei­ne Ein­käu­fe auf einem Stein­qua­der aus: Fla­den­bro­te, Toma­ten, ein hel­ler, fes­ter Käse und in But­ter­brot­pa­pier gewi­ckel­te, recht­ecki­ge Stück­chen eines Sirup- oder Honig-trie­fen­den Blätterteiggebäcks.

Inge und ich mer­ken jetzt erst, wie hung­rig wir inzwi­schen sind, und so ver­an­stal­ten wir ein ein­fa­ches, aber unge­mein befrie­di­gen­des Pick­nick am Fuße der im 15. Jahr­hun­dert von den osma­ni­schen Erobe­rern erbau­ten Felsenburg.

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Unse­re bei­den Stu­den­ten erzäh­len von der Bela­ge­rung und der Schlacht um Kon­stan­ti­no­pel mit solch einer Begeis­te­rung und mit so detail­lier­ten Aus­schmü­ckun­gen, dass ich es schwie­rig fin­de, die­se Geschich­ten mit den vor­her von ihnen so nüch­tern und sach­lich ver­tre­te­nen mar­xis­ti­schen Posi­tio­nen unter einen Hut zu bringen.
Auf ein­mal hören sie sich nicht mehr an wie zwei dem Mate­ria­lis­mus ver­pflich­te­te Intel­lek­tu­el­le, son­dern wie zwei klei­ne Roman­ti­ker, die blu­ti­ge his­to­ri­sche Rea­li­tä­ten mit einem blu­mi­gen Karl-May-Roman verwechseln.

Und dann sehe ich mich um, betrach­te die Mau­ern und das wild wuchern­de Grün um uns her­um und den­ke, hm, genau das ist das hier wahr­schein­lich für sie – eine Art Karl-May-Abenteuerspielplatz.
So, wie ich frü­her mit den Nach­bars­kin­dern aus der Sied­lung am Ham­bur­ger Stadt­rand durch das klei­ne Wäld­chen an unse­rem See geschli­chen und getobt bin – ent­we­der war ich eine „edle” India­ne­rin, oder ich gehör­te zur Ban­de von Robin Hood –, so sind wahr­schein­lich der klei­ne Ali und der klei­ne Yus­suf vor zehn, fünf­zehn Jah­ren hier als uner­schro­cke­ne Kämp­fer des Sul­tans durchs Unter­holz gestürmt…

Ein wenig von der kind­li­chen Begeis­te­rung hat zumin­dest Ali auch in sein „erwach­se­nes”, poli­ti­sches Den­ken hin­über geret­tet. Eben noch hat er von der klu­gen Tak­tik des Sul­tan Meh­met („the con­que­r­or”) geschwärmt, da ruft er plötz­lich im glei­chen, ent­zück­ten Ton: „Look, a soviet con­tai­ner ship is pas­sing by!”.
Und dann schwärmt er Inge und mir von der ste­ti­gen Zunah­me des Han­dels zwi­schen Tür­kei und UdSSR vor, und wie groß­ar­tig die­se Han­del­be­zie­hun­gen sowie die Sowjet­uni­on und der Sozia­lis­mus gene­rell doch seien.

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Ali und Inge klet­tern auf der Fes­tung und dem Hügel her­um, wäh­rend Yus­suf und ich auf dem Stein­wall sit­zen blei­ben, auf den Fluss hin­ab schau­en und uns unter­hal­ten. Wir spre­chen sehr offen über unse­re Träu­me, unse­re Gefüh­le, aber auch über unse­re Ängste.
Es ist, als wür­den wir uns schon ewig kennen.

Als ich von mei­nem Gefühl des Hin- und Her­ge­ris­sen­seins spre­che (zwi­schen dem Bedürf­nis, an das Gute in jedem Men­schen zu glau­ben einer­seits und der Furcht, betro­gen und benutzt zu wer­den ande­rer­seits), lächelt er mich wie­der auf die­se unglaub­lich strah­len­de Art an und meint, es kön­ne mir doch nicht all­zu schwer fal­len, mich in kon­kre­ten Situa­tio­nen zwi­schen Ver­trau­en und Miss­trau­en zu ent­schei­den: „You just have to lis­ten to your instinct.”
Er hal­te mich für eine „open min­ded per­son”, fährt er fort, und das sei sei­ner Erfah­rung nach auch der bes­te Weg, ande­re Men­schen und ihre Absich­ten rich­tig ein­zu­schät­zen. Wenn ich für Ande­re offen wäre, wür­de ich schnell mer­ken, ob ich ihnen trau­en kön­ne oder nicht – „and if they can touch your heart or not”.
Wenn ich hin­ge­gen ver­su­chen wür­de, mei­ne Gedan­ken und Gefüh­le zu ver­ber­gen, eine Mas­ke zu tra­gen, dann wür­de das die Distanz zwi­schen ande­ren Men­schen und mir unnö­tig vergrößern.
Unauf­rich­tig­keit ver­län­ge­re immer nur den Weg, den man mit Offen­heit direkt gehen könn­te. Und wer die­sen län­ge­ren Weg wäh­le, wür­de ohne­hin frü­her oder spä­ter eben­falls den Punkt errei­chen, an dem er die Kom­mu­ni­ka­ti­on ent­we­der been­den müs­se – oder sich doch noch (dann aber mög­li­cher­wei­se zu spät…) öff­nen und sein wah­res Gesicht hin­ter der Mas­ke zeigen.

What do you stu­dy,” fra­ge ich Yus­suf, „psy­cho­lo­gy?”
„Eco­no­my,” ant­wor­tet er und grinst.

Wir reden über Selbstbewusstsein.
Ali und er wir­ken auf mich benei­dens­wert selbst­be­wusst, klar, gelas­sen und hei­ter – alles Eigen­schaf­ten, die ich gern hät­te. Statt­des­sen kom­me ich mir aber all­zu häu­fig unsi­cher, ziel­los und total kon­fus vor.
„The only way to beco­me self­con­fi­dent, is to make experiences.”
Um selbst­si­che­rer zu wer­den, musst du Erfah­run­gen machen.
Schon wie­der so ein druck­rei­fer Satz, den ich gleich heu­te Abend in mein Tage­buch schrei­ben werde…
Natür­lich müs­se man, um Erfah­run­gen zu machen, auch mal etwas ris­kie­ren, sagt Yus­suf, aber das bedeu­te nicht, dass man sein Gehirn abschal­ten sol­le. Im Gegen­teil, man soll­te sei­nen Ver­stand schär­fen und alles beden­ken, was einem an Infor­ma­ti­on zur Ver­fü­gung steht. Und sobald man eine Erfah­rung – egal, ob eine gute oder schlech­te – gemacht hat, sei es wich­tig, sie gründ­lich zu ana­ly­sie­ren und aus­zu­wer­ten. Nur so kön­ne man dar­aus lernen.

Es beginnt zu dämmern.
Inge und Ali kom­men von ihrem Rund­gang zurück, und die bei­den jun­gen Män­ner laden uns ein, noch mit in ihre Woh­nung zu kommen.
Ich bin sofort ein­ver­stan­den; es inter­es­siert mich zu erfah­ren, wo und wie die Zwei leben. Aber Inge zögert. Sie gibt zu beden­ken, dass wir mor­gen nicht ver­schla­fen dür­fen und pünkt­lich um zehn Uhr beim 608 sein müs­sen, sonst wür­de Rolf ohne uns abfahren.
„Wir kön­nen uns vom Hos­tel wecken las­sen,” wen­de ich ein, „außer­dem macht es nichts, wenn wir völ­lig über­näch­tigt in den Bus klet­tern – wir kön­nen doch auch wäh­rend der Fahrt pennen.”
Inge wirft mir einen zwei­feln­den Blick zu, und ich ver­ste­he, dass die Sor­ge, wir könn­ten die Abfahrt unse­res Bus­ses ver­pas­sen, nicht der wirk­li­che Grund ihres Zau­derns ist. Sie ist ein­fach unsi­cher, ob wir zwei jun­gen Tür­ken, die wir gera­de seit ein paar Stun­den ken­nen, in deren Woh­nung fol­gen sollten…

Tür­kin­nen wür­den so was bestimmt nicht machen,” meint sie.
„Aber wir sind kei­ne Tür­kin­nen,” stel­le ich fest. „Ich hab ein gutes Gefühl bei der Sache. Die sind in Ord­nung, die wer­den nichts machen, was wir nicht wollen.”
Inge zieht eine Gri­mas­se: „Viel­leicht ist genau das mein Pro­blem – dass ich nicht wirk­lich weiß, was ich will und was nicht…”
„Don’t think too much about tomor­row – or yes­ter­day!” ruft Ali fröhlich.
„You live right now – THIS IS WHAT’S HAPPENING!”

Inge lacht.
„Na gut, dann mal los… star­ten wir ein deutsch-tür­ki­sches Happening!”

Ali und Yus­suf tei­len sich eine Woh­nung, die nur aus zwei win­zi­gen, durch einen klei­nen Flur ver­bun­de­nen Zim­mern besteht. Die Toi­let­te befin­det sich im Trep­pen­haus. In bei­den Zim­mer­chen gibt es jeweils ein Bett, eine Kom­mo­de und ein Bücher­re­gal – mehr wür­de auch nicht hin­ein passen.
Wir sit­zen in Alis Zim­mer auf dem Tep­pich, weil das einen Tic grö­ßer ist als das ande­re. Er stu­diert Kunst und zeigt uns stolz sein neu­es­tes, noch nicht ganz voll­ende­tes Werk.
Es erin­nert mich an die gigan­ti­schen Gemäl­de aus der Sowjet­uni­on und DDR, die ich schon immer extrem scheuß­lich fand. Jene „sozia­lis­ti­sche Kunst”, die mus­kel­be­pack­te Arbei­ter-Hel­den zeigt, die sich in revo­lu­tio­när-kämp­fe­ri­schen Posen einer roten Fah­ne oder Ham­mer und Sichel ent­ge­gen recken – nur dass das Bild­for­mat hier weit beschei­de­ner ist und dass die mus­kel­strot­zen­den Arbei­ter mit ihren schwar­zen Schnauz­bär­ten eben sehr tür­kisch aussehen.

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Aber das sage ich Ali nicht.
Es gibt auch Momen­te, da ist Offen­heit fehl am Plat­ze; dann näm­lich, wenn sie abso­lut nichts bewirkt – außer, mög­li­cher­wei­se Jeman­den zu verletzen.

Wir reden, trin­ken Tee, lachen. Es wird spät.
Eini­ge Male ver­sinkt mein Blick tief in Yus­sufs war­men, dunk­len Augen.
Und als Inge schließ­lich meint, sie wol­le nun wirk­lich lang­sam los, fragt er: „Why don’t you stay here tonight? I could bring you to your Hos­tel very ear­ly in the morning…”.
Ich bin unschlüssig.
Einer­seits ist er ein klu­ger, attrak­ti­ver, ein­fühl­sa­mer Mann, ander­seits bin ich aber jetzt schon in einem Zustand geis­ti­ger und emo­tio­na­ler Erschöp­fung – zuviel habe ich heu­te gese­hen, erlebt, gehört, gelernt.
So mache ich schließ­lich das, was er selbst mir heu­te Nach­mit­tag gera­ten hat, ich ver­las­se mich auf mei­nen Instinkt.
Und der sagt mir, dass ich gehen und die­se nur noch kur­ze Nacht allein in mei­nem Bett im Hos­tel ver­brin­gen sollte.

Yus­suf und Ali brin­gen uns noch bis zur Ufer­pro­me­na­de am Bos­po­rus, von wo aus Inge und ich den Weg zum Hos­tel kennen.
Es ist etwa so spät wie vor fünf Tagen, als ich nach unse­rer Ankunft nachts durch die­se Stadt irr­te, auf der Suche nach einem Platz zum Schlafen.
So vie­les hat sich in die­sen fünf Tagen geän­dert. Istan­bul ist von einem fins­te­ren Moloch zu einem fas­zi­nie­ren­den, leben­di­gen Ort gewor­den, ich habe die Wahl zwi­schen zwei ver­schie­de­nen, aber glei­cher­ma­ßen net­ten Schlaf­ge­le­gen­hei­ten, – und, ja, auch ich habe mich ein wenig verändert.

Zum Abschied hau­che ich Yus­suf einen Kuss auf die Wange.
„You,” sage ich lei­se, „you defi­ni­te­ly touch­ed my heart.”

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