16. Burunduks und Phat-a-Phats

14. Sep­tem­ber

In die­ser Nacht, die ich im Schlaf­sack schwit­zend am Stra­ßen­rand weni­ge Kilo­m­ne­ter vor dem Grenz­über­gang Wag­ha ver­bracht habe, konn­te ich ins­ge­samt höchs­tens drei Stun­den lang schla­fen. Trotz­dem war ich sel­ten so froh über die ers­ten Son­nen­strah­len, die der Nacht ein Ende setzen.

Die lan­ge Rei­he der Fahr­zeu­ge ist in feucht-war­men Dunst getaucht.

An bei­den Sei­ten der Stra­ße erwa­chen die in Tücher und Decken gehüll­ten Schlä­fer, und ihr Schwat­zen und Klap­pernmit Gerät­schaf­ten aus Edel­stahl und Weiß­blech weckt auch die­je­ni­gen, die vom Tages­an­bruch noch nichts mit­be­kom­men haben.

Zum ers­ten Mal bekom­me ich hier den Ein­satz jener „Natur-Zahn­bürs­ten” vor­ge­führt, von denen mir Indi­en-Rei­sen­de erzählt haben – Holz­stöck­chen, die an den Enden zu fase­ri­gen „Besen” zer­kaut und dann zur Zahn­rei­ni­gung ver­wen­det werden.

Es han­delt sich dabei ganz offen­sicht­lich eine sehr effek­ti­ve Art der Zahn­pfle­ge, denn sogar spin­del­dür­re, unter­ernährt und auch sonst nicht gera­de gesund aus­se­hen­de Paki­sta­nis und Inder ver­fü­gen häu­fig über ein wirk­lich pracht­vol­les, blen­dend wei­ßes Gebiss.

Auch mei­ne Mit­rei­sen­den wachen nun nach und nach auf.

Nach einer flüch­ti­gen Mor­gen­toi­let­te wird Kaf­fee und Tee zube­rei­tet, dazu gibt es Knä­cke­brot und Zwie­back. Wir haben gera­de unse­re Becher und Scha­len abge­spült, als wei­ter vorn in der Kolon­ne die ers­ten Moto­ren gestar­tet werden.

Los, los, alles ein­stei­gen, es geht wei­ter – end­lich!” drängt unser Fah­rer, und wir beei­len uns, in den 608 zu kommen.

Wenig spä­ter rollt die Kara­wa­ne aus PKWs, Bus­sen und teil­wei­se wun­der­hübsch bemal­ten Trucks wie­der, und etwa eine hal­be Stun­de spä­ter hal­ten wir an der Grenze.

Als wol­le man die Rei­sen­den für die unbe­quem am Stra­ßen­rand ver­brach­te Nacht ent­schä­di­gen, ver­läuft die Abfer­ti­gung durch den Zoll, auf der paki­sta­ni­schen wie auf der indi­schen Sei­te, erstaun­lich schnell und unkom­pli­ziert. Wie schon in Tork­ham müs­sen wir nicht ein­mal aus­stei­gen, son­dern die Zöll­ner klet­tern zur Pass­kon­trol­le in den 608.

Selbst­ver­ständ­lich müs­sen sie irgend­wel­che Papie­re aus­fül­len, haben aber gera­de kei­nen Stift zur Hand, und selbst­ver­ständ­lich über­reicht Rolf ihnen eigens dafür mit­ge­brach­te Vier-Farb-Kugel­schrei­ber (die in die­sem Teil der Welt immer noch eine tech­ni­sche Neu­heit ers­ten Ran­ges dar­stel­len). Eben­so selbst­ver­ständ­lich winkt er ab, als der paki­sta­ni­sche Beam­te so tut, als wol­le er ihm den Kugel­schrei­ber zurück geben – der auf der indi­schen Sei­te ver­zich­tet gleich auf die­se sym­bo­li­sche Ges­te und steckt den dicken, gol­den glän­zen­den Schrei­ber erfreut grin­send in sei­ne Brusttasche.

Ich hat­te gehofft, in kurz hin­ter der Gren­ze gele­ge­nen Amrit­sar einen Blick auf den berühm­ten Gol­de­nen Tem­pel der Sikhs wer­fen zu kön­nen, aber nein, unser Fah­rer hat es eilig.

Er will unbe­dingt noch vor dem Abend in Delhi sein, und das ist nicht nur eine ziem­lich lan­ge Stre­cke, son­dern man kommt auf den indi­schen Stra­ßen auch bei wei­tem nicht so schnell vor­an wie auf den Pis­ten in den men­schen­lee­ren Wüs­ten­ge­bie­ten in der Ost­tür­kei, im Iran oder in Afgha­ni­stan. Schon in Paki­stan hat­te der Ver­kehr stark zuge­nom­men, und hier schiebt sich unser Bus immer wie­der im Schritt-Tem­po durch ein mobi­les Dickicht aus von Pfer­den, Büf­feln oder Mulis gezo­ge­nen Kar­ren, Kraft­fahr­zeu­gen, moto­ri­sier­ten oder mit Bein­kraft ange­trie­be­nen Rik­schas, Fahr­rä­dern und Fußgängern…

Auch nachts ist auf den indi­schen Stra­ßen noch eine Men­ge los,” erzählt Rolf, „aller­dings haben die Esels­kar­ren und der über­wie­gen­de Teil der Rad­fah­rer kein Licht, und eine Stra­ßen­be­leuch­tung exis­tiert nur an den Haupt­ver­kehrs­ach­sen der größ­ten Städ­te. Des­halb ver­mei­de ich es, nach Ein­bruch der Dun­kel­heit noch zu fahren.”

Bei Voll­mond ist es nicht ganz so schlimm,” wirft Cathe­ri­ne ein, „aber momen­tan ist vom Mond kaum was zu sehen; ihr habt ja selbst mit­ge­kriegt, wie fins­ter es letz­te Nacht war. Es wäre wirk­lich bes­ser, wenn wir noch bei Tages­licht in Delhi ankommen!”

Ihr Wunsch geht in Erfül­lung – am spä­ten Nach­mit­tag errei­chen wir die nord­in­di­sche Metropole.

Wir wer­den min­des­tens eine Woche in Delhi blei­ben, denn es gibt hier Eini­ges zu erle­di­gen,” infor­miert uns Rolf, wäh­rend er den 608 durch das Getüm­mel auf den Stra­ßen der Stadt steuert.

Als ers­tes fah­ren wir jetzt zum „New Delhi Tou­rist Camp”. Das ist ein Cam­ping Platz, auf dem man auch klei­ne Hüt­ten mie­ten kann. Die Duschen und Toi­let­ten sind eini­ger­ma­ßen o.k., und es gibt eine ganz net­te Cafe­te­ria. Außer­dem ist direkt vor dem Ein­gang die Hal­te­stel­le einer Moto­rik­scha-Linie zum Zen­trum Neu-Delhis, dem Con­n­aught Place. Und da wir wegen der Nepal-Visa zusam­men zur Bot­schaft fah­ren wer­den, wäre es schon ganz prak­tisch, wenn ihr auch da wohnt.”

Die Wor­te „Dusche”, „Toi­let­ten” und „Cafe­te­ria” sind Musik in mei­nen Ohren. Ich beschlie­ße umge­hend, auf jeden Fall wäh­rend unse­res Auf­ent­halts im „New Delhi Tou­rist Camp” zu blei­ben, und auch von den Ande­ren kommt kein Ein­wand gegen Rolfs Vorschlag.

Mor­gen fah­re ich dann zu einem klei­nen Rei­se­bü­ro, in dem ich immer mei­ne Rück­flug-Tickets nach Deutsch­land kau­fe. Man kriegt da nicht nur Bil­lig-Tickets für die „Syri­an Arab Air­lines” oder der­glei­chen, son­dern auch wel­che für ordent­li­che Flug­ge­sell­schaf­ten zu sehr zivi­len Prei­sen. Kann ich euch eben­falls empfehlen!”

Ich wür­de ja gern schon ein Ticket kau­fen, aber ich weiß noch gar nicht genau, wann ich zurück­flie­gen wer­de,” wen­det Inge ein.

Ich habe doch jetzt auch noch kei­ne Ahnung, wann Cathe­ri­ne und ich zurück wol­len,” erklärt unser Fah­rer, „das macht aber nichts, die Tickets sind unda­tiert. Du rufst ein­fach ein paar Tage vor dem gewünsch­ten Rück­flug-Datum das Rei­se­bü­ro an, zum Bei­spiel von Kath­man­du aus, und erst dann buchen sie für dich einen Platz in einer Maschi­ne dei­ner Fluggesellschaft.”

Das ist ja ide­al,” sage ich.

Ich möch­te dann auf jeden Fall mor­gen in das Rei­se­bü­ro mitkommen!”

Bis auf Rosi und Agnes – die, wie sich her­aus­stellt, die Tickets für ihre Rück­flü­ge bereits vor unse­rer Abrei­se in Ham­burg gekauft haben – mel­den sich auch die ande­ren Pas­sa­gie­re für die Fahrt zum Rei­se­bü­ro an.

Das „New Delhi Tou­rist Camp” ist eine grü­ne Oase inmit­ten die­ser rie­si­gen Stadt.

Es ist von einer hohen Mau­er umge­ben, die nicht nur Stra­ßen­händ­ler und Bett­ler, son­dern auch einen Teil des tosen­den Ver­kehrs­lärms von den Gäs­ten fern­hält. In der rela­tiv gepfleg­ten Anla­ge ste­hen locker ver­teilt Reis- und Klein­bus­se, Zel­te und die von Rolf erwähn­ten klei­nen Hüt­ten. Auch ein Rotel-Bus steht nahe beim Ein­gang, des­sen Pas­sa­gie­re – die bei die­ser schwü­len Hit­ze in sar­di­nen­do­sen­gro­ßen Schlaf­zel­len aus Blech über­nach­ten müs­sen – einem wirk­lich leid tun kön­nen. Da neh­me ich doch lie­ber eine gele­gent­li­che Über­nach­tung am Stra­ßen­rand in Kauf…

Inge und ich mie­ten eine der nur mit zwei Prit­schen, einem wacke­li­gen Stuhl und einem Tisch möblier­ten Ein-Zimmer-Häuschen.

Wir sind bei­de hung­rig, aber bei mir ist die Sehn­sucht nach flie­ßen­dem Was­ser noch grö­ßer als die nach Nah­rung. Und so führt mich mein ers­ter Weg zu den Wasch­räu­men, sobald mein Kof­fer unter einer der Prit­schen ver­staut und die Tür unse­rer Hüt­te mit einem Vor­hän­ge­schloss gesi­chert ist.

Aus dem Abfluss in der ers­ten Dusch­ka­bi­ne, deren Tür ich auf­sto­ße, kommt mir eine mons­trö­se, unge­fähr fünf Zen­ti­me­ter lan­ge Kaker­la­ke ent­ge­gen gekrab­belt. Mei­ne Reak­ti­on auf das Unge­tüm erstaunt mich selbst – ich zucke bloß mit den Ach­seln und neh­me die Dusche zwei Türen wei­ter. Wahr­schein­lich bin ich zu erschöpft, um mich aus­gie­big zu ekeln.

Nach dem Duschen gehe ich zum „Tou­rist Camp”-Restaurant. Inge, Anna, Cathe­ri­ne, Rolf und Ulli sit­zen dort schon auf der Veran­da. Ulli hat sich zur Fei­er unse­rer Ankunft sogar ein teu­res „Kingfisher”-Bier geleistet.

Ich bestel­le mir ein Club-Sand­wich, das sehr lecker ist, und als ich danach noch nicht ganz satt bin, emp­fiehlt mir Rolf eine Por­ti­on „Bana­na Frit­ters” als Des­sert. Das sind gevier­tel­te, in Back­teig frit­tier­te Bana­nen, die hier mit einer Art Pud­ding-Soße („Cus­tard”) mit Vanil­le­ge­schmack ser­viert wer­den. Ich bin total ent­zückt von dem köst­li­chen Kon­trast zwi­schen fet­ti­ger Knusp­rig­keit und mil­der Süße. Inge bestellt sich auch eine Por­ti­on, nach­dem sie bei mir pro­biert hat.

Nach dem Essen sit­zen wir noch ein Weil­chen trä­ge her­um und beob­ach­ten die drol­li­gen Strei­fen­hörn­chen, die auf den Bäu­men und Rasen­flä­chen umher flitzen.

Ich dach­te, Strei­fen­hörn­chen gibt es nur in Ame­ri­ka…” sage ich versonnen.

Ja, und da beson­ders in Dis­ney-Zei­chen­trick­fil­men!” lacht Inge.

Nein, ernst­haft,” ich set­ze mich auf, „ich habe mal gele­sen, dass Strei­fen­hörn­chen, so wie unse­re Eich­hörn­chen, eine Win­ter­ru­he hal­ten. Wann machen sie die denn hier in Indien?”

Ich glau­be nicht, dass indi­sche Strei­fen­hörn­chen über­haupt so etwas wie Win­ter­schlaf machen,” erklärt Catherine.

Auf jeden Fall gibt es davon in Delhi recht vie­le. In den Grün­an­la­gen rund um das Red Fort wim­melt es nur so von ihnen. Teil­wei­se sind die sehr zutrau­lich, fres­sen dir Nüs­se und Keks-Stück­chen aus der Hand.”